Die anonyme Geburt anno dazumal

Wenn eine ledige Frau im 18. und 19. Jahrhundert eine Schwangerschaft feststellte, war meist ihre Verzweiflung groß. Gab es keine Hoffnung, dass der Schwängerer sie (rechtzeitig) heiratete, stand ihr die Katastrophe eines (weiteren) sozialen Abstiegs bevor, wenn sie das Kind zur Welt brachte. Abtreibung war mit den damaligen Mitteln lebensgefährlich und unsicher, außerdem teuer. Konnte die Unglückliche jedoch ihre Schwangerschaft und die Geburt verheimlichen, war die Abgabe des Neugeborenen an ein Findelhaus ein möglicher Ausweg, wie die aktuelle Sonderausstellung »Vor Schand und Noth gerettet«?! im Bezirksmuseum Josefstadt – für das wir einer der Leihgeber sind – zeigt. 

Gegebenenfalls konnte sie das Kind bei einer Pflegemutter unterbringen – doch dafür benötigte sie Geld und Kontakte. Kein Wunder, dass immer wieder Kindsmorde bekannt wurden, genauer gesagt Neugeborenentötungen, wie wir in unserem Beitrag „Ledige Mütter anno dazumal waren nicht herzlos sondern verzweifelt“ beschrieben haben.

Wie im Vergleich dazu Frauen aus „höheren“ Gesellschaftsschichten und ihre zahlungsfähigen Schwängerer mit der Situation umgegangen sind, untersuchte der deutsche Historiker Jürgen Schlumbohm in seiner Entzifferung und Aufarbeitung des „Geheimen Buches des Göttinger Geburtshospitals 1794-1857“. 

Anhand von 27 Fallgeschichten zeigt er, dass es im Göttinger Hospital die Möglichkeit der heimlichen Entbindung gab, wenn die außereheliche Geburt nicht bekannt werden durfte. Davon machten Töchter (und Söhne) aus „achtbaren“ Familien, aus Adelskreisen und aus kirchlichen Gesellschaftsschichten Gebrauch, „wenn die Schwangere oder der Vater ihres Kindes über die Mittel verfügten, die beträchtlichen Gebühren zu tragen.“ Wer zahlen konnte, durfte anonym bleiben und war außerdem von der Notwendigkeit befreit, für Ausbildungszwecke ‚zur Verfügung zu stehen‘. Denn „der Hauptzweck des Göttinger Geburtshospitals [war] die praktische Ausbildung von Medizinstudenten, ein zweites Ziel die Unterrichtung von Hebammen. Hilfsbedürftigen Gebärenden eine sichere Zuflucht und Betreuung zu bieten, bildete nur einen dritten, untergeordneten Zweck der Institution. […] Waren die Patientinnen unverheiratet und arm, meist Mägde und Dienstmädchen in der Stadt oder im weiteren Umfeld, wurden sie im Hospital kostenlos versorgt.“ (S. 10)

Über eine ähnliche Situation in Wien haben wir hier berichtet: Das Tor für die heimlich Schwangeren.

Schlumbohm befasst sich in seiner Untersuchung u.a. mit den gesundheitlichen Risken der heimlichen Geburten: 

„Die Frauen, die sich zur heimlichen Entbindung im Hospital entschlossen, nahmen – vermutlich unbewusst – das erhöhte Mortalitätsrisiko des Kindbettfiebers in Kauf.“  1840/1841 “verlor die Klinik in zweieinhalb Monaten insgesamt sieben Patientinnen. […] Offenbar wütete im Göttinger Accouchierhaus während dieser Wochen das Kindbettfieber, eine Geißel der Entbindungshospitäler, die dazu führte, dass die Müttersterblichkeit in Kliniken weit höher lag als bei gewöhnlichen, von Hebammen betreuten Hausgeburten – bis schließlich [erst] seit den 1880er Jahren Anti- und Asepsis (Keimbekämpfung bzw. Keimfreiheit) in Spitälern eingeführt wurde.“ (S. 104/105)

Auch für die Kinder bestand ein Risiko: „Dass von den 28 heimlich zur Welt Gekommenen mindestens vier im ersten Lebensjahr starben und eines tot geboren wurde, deutet auf eine erhöhte Mortalität, [wobei] über viele [in Pflege gegebene] Kinder nach wenigen Wochen keine Nachrichten mehr einliefen. Schlechtere Chancen zu haben, war freilich allgemein das Schicksal der Unehelichen, nicht nur der verheimlichten.“ (S. 176)

Doch „die Möglichkeit, unter falschem Namen eine anonyme Entbindung zu absolvieren, wurde [ab dem frühen 19. Jahrhundert] durch […] die immer striktere bürokratische Erfassung der Personenstandsdaten eingeengt. […] Ein besonderes Augenmerk der Obrigkeit galt stets der Registrierung unehelicher Kinder, teils aus Sorge vor der Überlastung der Armenkassen, teils im Interesse der Durchsetzung moralischer Verhaltensnormen.“ (S. 173) „In diesem immer dichter geknüpften Netz der bürokratischen Erfassung schwanden die Freiräume, in denen zuvor heimliche Geburten möglich waren, ohne zum äußersten Mittel der Aussetzung oder Tötung zu schreiten. Erst spät wurde per Gesetz wieder eine Nische für anonyme oder vertrauliche Geburten eröffnet …“ (S. 174) 

In Österreich gibt es die anonyme Geburt übrigens wieder seit dem Jahr 2001.

 

Jürgen Schlumbohm: Verbotene Liebe, verborgene Kinder. Das Geheime Buch des Göttinger Geburtshospitals 1794-1857, Göttingen: Wallstein Verlag, 2018, ISBN 978-3-8353-3250-8.