Das erotische Bild im Vierzeiler
Der Philologe und Volksliedspezialist und spätere Gymnasiallehrer Alfred Webinger (1885–1956) hat für den 9. Band der Krauss’schen Anthropophyteia den Hauptartikel verfasst: „Deutsche Bauernliebe. Beiträge zur Erforschung der Minne im Leben und Liede, vorzüglich der oberösterreichischen und steirischen Bauernschaft“. Der 196 Seiten umfassende Beitrag liefert neben einer umfassenden Materialsammlung von 1087 Vierzeilern und 276 Melodien einen lesenswerten wissenschaftlichen Textteil. In der Abhandlung 1 „Das erotische Bild im Vierzeiler“ widmet sich Webinger kundig der Entschlüsselung von erotisch konnotierten Metaphern aus der Arbeitswelt der ländlichen Bevölkerung. Und stellt die Präferenz des „bäuerlichen Sing- und Schöpferdrangs“ mittels der poetischen Form des Vierzeilers in den Mittelpunkt (Krauss 1929: 35). Vierzeiler ist eine versmetrische Bestimmung, die auf das vierzeilige Reimschema (aabb) einer Strophe verweist, die nach diesem Muster „gestanzt“ wird. Das sog. Gstanzl (auch Schnaderhüpfl genannt, das sich auch in Zweizeilern ausbilden kann) ist ein kreativer Spielplatz, Gedanken situationsbezogen und spielerisch-frech in Reimform zu fassen. Weil im Gstanzl Inhalte immer wieder auf neue Themen hin adaptiert werden, ist diese Praxis bis in die Gegenwart eine wichtige Form improvisierten Musizierens. Seit in Europa in den 1980er Jahren die Technik des Rappens die Popularmusik inhaltlich-formal mitbestimmt, hat die lokale Form des Gstanzln-Singens Konkurrenz bekommen; beiden Gattungen ist die Haltung zur Poesie gemein: sie fassen Themen der Zeit in Poesie. Das Gstanzl ist eine bedeutende gesellschafts- und generationenübergreifende Form lokaler Popularmusik, was das Stöbern in der Sammlung Krauss offengelegt hat.