Prolog

„Hier wird ein Weniges von der Liebe die Rede sein, aber nicht bloß von ihrer Blume, sondern auch vom Stengel“ (Peter Rosegger zit.n. Haid 1983: 218).

Der Umgang mit dem Thema Erotik in der abendländischen Kulturgeschichte liest sich als durchwachsene Geschichte der doppelten Moral. Während die Literaturwissen- schaft die Uranfänge der Poesie in erotisch gefärbter Lyrik erkennt, hat sich Im Korsett kirchlicher und staatlicher Reglementierungen eine mit Angst besetzte Moralvor- stellung in der Gesellschaft ausgeformt. Alledem zum Trotz ist der Menschheit die Sinnlichkeit im Alltagsleben nicht abhandengekommen, denn „..nur wenn Feigenblätter fallen, wird die Welt nicht untergeh‘n“, schreibt der Liedermacher Ulli Troy (geb. 1953) im 2014 entstandenen Song „Die Hochzeitsnacht“. In diesem reflektiert Troy über die moralisch korrekte Chronologie der Geschehnisse „Zuerst Heiraten / dann Sexuali- tät“ und alternativer Lösungsansätze, die auch zum Ziel sinnlicher Liebe führen: zum Beispiel durch „Schwarzarbeit“. Scheinbar auch Jahrzehnte nach der sog. sexuellen Revolution sind Themen, die Sexualität betreffend immer noch mit moralischen Auflagen konnotiert. Ulli Troy kommt als Liedermacher selbst aus den 1970er Jahren, einem Jahrzehnt, das von den Errungenschaften der Enttabuisierung der Sexualität profitiert. Das Überbord-Werfen einer spießigen, beklemmenden Sexualmoral lässt im neuen Lebensgefühl seither ganz offiziell über Themen der geschlechtlichen Liebe singen. Das Neue damals erschien, dass in anti-romantischen Songs auch über dunkle Aspekte der Lust gesungen wurde. Das machte die neue, aus den USA und England importierte Popularmusik der Nachkriegsjahrzehnte so anziehend und revolutionär. Die gesellschaftsübergreifende Kraft von „Sex and Rock’n‘Roll“ machte ein lange verschwiegenes Thema, das Lebensthema Nr. 1, erstmals unzensuriert öffentlich artikulierbar.

Dass Sexualität und Erotik weit vor der sexuellen Revolution Bestandteil von Lyrik und lokalen Popularmusikpraktiken war, will mit der hier vorgestellten Sammlung von Friedrich Salomon Krauss in Erinnerung gebracht werden. In scheinbar allen Ländern der Welt haben sich volkskulturelle Praktiken ausgebildet, die sich mit den Herausfor- derungen der Sexualität im Alltagslebens auseinandersetzen. Da wäre die Volksme- dizin, der Volksglauben oder auch die Volksmusik zu nennen. Gerade letztere war ein nachweislich bedeutendes Vehikel der Kommunikation – mit viel Ventilfunktion für den Sänger/die Sängerin gerade dort, wo es um Unaussprechliches oder Verbotenes geht. Heute sind Lieder solcherart wichtige Informationsträger für die Urtriebforschung, was „die Menschen am Land“, was „die Menschen in der Stadt“ über die Geschlechtlichkeit zu bestimmten Zeiten wussten, wie sie sich im „Reden“ über Sexualität artikulierten. Oder wie die Menschen einer bestimmten sozialen Schichte den Geschlechtsverkehr in Sitte, Brauch, Glauben und Gewohnheit auffassten (Krauss 1929: 10). Schließlich aber legen solche Sammlungen für die Musikgeschichtsschreibung offen, dass lange vor der (amerikanisierten) Popularmusik eine lokale Popularmusik, namens Volksmusik, in überraschend anti-romantischer Deutlichkeit, Radikalität und dem nötigen Portion Humor die „Sinnlichkeit der Liebe“ beim Wort packte. Jedenfalls dann, wenn man die entsprechenden Liederbücher kennt.