Ein rebellisches Vorbild: Die Frauenrechtlerin Aletta Henriette Jacobs (1854-1929)
Aufnahme ins Gymnasium? Keine Chance für ein Mädchen. Zulassung zum Universitätsstudium? Keine Chance für ein Mädchen. Genehmigung zum Erwerb des Doktorates? Keine Chance für ein Mädchen. Ausübung des Wahlrechtes? Frauen haben keines.
Derartigen existenziellen Hürden sah sich die Holländerin Aletta Jacobs im Laufe ihres Lebens gegenüber: Einschränkungen der persönlichen Entscheidungsfreiheit, konservativ-geprägte Verbote, Ignoranz und Behinderungen. Man kann ihren Aufschrei geradezu hören: „Es kann doch nicht sein, dass ich als Ärztin steuerpflichtig bin wie ein Mann, aber als Frau nicht wählen darf“, sagte sie im Jahre 1883. Die Situation in Holland war nicht anders als in den meisten anderen Staaten: das Wahlrecht war mit Steueraufkommen oder Besitz gekoppelt. Da die Männer als Familienoberhaupt berufstätig waren oder über den Besitz verfügten, waren sie es, die Steuern zahlten. Nur wenige Frauen waren außer Haus tätig und hatten ein eigenes Einkommen.
Aletta Jacobs hatte Übung im Kampf gegen Männerbastionen: Ihre Eltern hatten sie modern erzogen; weil sie es in der Haushaltsschule für ‚Höhere Töchter’ nicht mehr ausgehalten hatte, wurde sie zu Hause unterrichtet, lernte neben den typisch weiblichen Fächern mehrere Sprachen und wollte schließlich wie ihr Vater Arzt werden. Dazu brauchte sie einen entsprechenden Schulabschluss. Doch Mädchen wurden an Gymnasien nicht aufgenommen. Jacobs erste ‚feministische Leistung’ war es, diese Regelung zu Fall zu bringen. Seit 1870 sind in Holland Mädchen zum Besuch höherer Schulen berechtigt. Im Jahr darauf wandte sie sich an den Premierminister, um als Frau auch zum Studium zugelassen zu werden. Nach einer Probezeit von einem Jahr wurde ihre vorläufige Zulassung als Gasthörerin in eine reguläre Inskription umgewandelt und schließlich wurde ihr auch erlaubt, zu den Abschlussprüfungen anzutreten. 1878 war sie die erste Ärztin der Niederlande. Fünf Jahre später begann ihr Kampf ums Wahlrecht für Frauen; er dauerte fast 40 Jahre.
Die Gegner des Frauenwahlrechts waren stark: Jacobs wurde praktisch von allen ausgelacht, verspottet, verbal angegriffen, ihre Eingaben wurden nicht ernst genommen und wanderten einfach in amtliche Schubladen, die Medien warfen ihr vor, sich einfach nur wichtig machen zu wollen. Ihre wiederholten Anläufe für das Frauenwahlrecht führten zuerst sogar zum Gegenteil: Das Gesetz wurde novelliert. War zuvor nur von ‚Steuerzahlern’ und ‚Bürgern’ die Rede, hieß es nun expressis verbis ‚männliche Steuerzahler’ und ‚männliche Bürger’.
Auch als Ärztin ließ sie kein Thema aus, das zu Kontroversen Anlass gab: Gesundheitsschutz für Verkäuferinnen und Prostituierte. Sie schrieb das erste holländische Buch über die weibliche Anatomie für Nicht-Ärzte.
Verhütung war zu ihrer Zeit kein ärztliches Aufgabengebiet: Moralische und finanzielle Argumente wurden dagegen vorgebracht: Zum einen wurde jede Überlegung zur Familienplanung mit einer Aufforderung zum Schwangerschaftsabbruch gleichgestellt, zum anderen fürchteten viele Ärzte, beim Versagen empfohlener Verhütungsmittel selbst zur Kasse gebeten zu werden. Doch Jacobs hörte ihren Patientinnen zu: "Während meiner Spitalstätigkeit wurde ich Augenzeuge, welche katastrophalen Auswirkungen häufige Schwangerschaften auf das Leben einer Frau haben können. In langen Gesprächen haben mir viele Patientinnen klar gemacht, dass sie weitere Schwangerschaften nicht verhindern können, wenn sexuelle Enthaltsamkeit ihre einzige Verhütungsmöglichkeit ist. Ich habe Tage damit verbracht, nach Lösungen zu suchen." Sie gründete eine Klinik, in der sie auch Verhütungsmittel abgab. Unter anderem empfahl sie das damals gerade erfundene erste Diaphragma, das Mensinga-Pessar.
Wieder stieß sie auf Widerstand: Priester wetterten von der Kanzel gegen die Verhütung, brachten aber ihre Frauen in Jacobs Ordination. Und erst die Ärzte! "Obwohl ich keine große Unterstützung durch die Kollegenschaft erwartet hatte, war ich dennoch über den Zorn erstaunt. Ich hatte die Wut der ganzen medizinischen Welt auf mich gezogen." Man riet der einzigen weiblichen Frauenärztin Hollands, ihre Aktion öffentlich zu bereuen und sie sofort einzustellen. Obwohl sie das ablehnte, plagten sie Zweifel: "Würde die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln letztlich zu einer Welt ohne Kinder führen? Würde sie zum Ehebruch einladen? Falls die Geburtenrate sänke, würde sie die wirtschaftliche Stellung meines Landes bedrohen? Diese Fragen verfolgten und quälten mich, war ich doch volkswirtschaftlich eine Laiin. Doch dann beruhigte mich die Überlegung, dass der Wunsch nach einem Kind für die meisten Frauen so groß ist, dass sie nur aus schwerwiegenden Gründen darauf verzichten."
Kurz vor ihrem Tod schrieb sie: „Ich habe das große Glück, dass ich meine drei großen Ziele realisieren konnte. Diese waren: 1) Die Öffnung der Universitäten und daraus folgender Berufe für Frauen aller Gesellschaftsschichten 2) Mutterschaft zu einer Frage des Wünschens zu machen statt zu einer Frage des Müssens 3) Die politische Gleichberechtigung für Frauen. So habe ich meine Aufgabe erfüllt und kann diese Welt in der Überzeugung verlassen, dass sie sich in einem besseren Zustand befindet als ich sie vorgefunden habe.“