Der Staat brauchte eine Demonstration seiner Macht
Dem Gynäkologen Horst Theissen zum Siebzigsten
Am 12. Dezember 2008 wird ein Mann siebzig, der rechtspolitische Geschichte geschrieben hat – allerdings als Opfer. Auf seinem Rücken – und dem seiner Patientinnen – tobten sich die deutschen Abtreibungsgegner aus.
Seit 1976 besteht in Deutschland die Möglichkeit zum ambulanten Schwangerschaftsabbruch beim Vorliegen einer medizinischen, kriminologischen, eugenischen oder einer Notlageindikation. Allerdings durften in Bayern seit 1980 Abbrüche nur noch stationär (mit einem mehrtägigen Krankenhausaufenthalt) durchgeführt werden - wenn sich überhaupt ein Krankenhaus bereit fand. Frauen wichen daher nach Möglichkeit nach Hessen oder gleich in die Niederlande aus – es sei denn, sie fanden einen Arzt, der ihre Notlage erkannte.
Seit 1974 war Horst Theissen Frauenarzt in der bayrischen Stadt Memmingen. Wenn er nach ausgedehnten Gesprächen mit den betroffenen Frauen die Notlage erkannt hatte, führte er trotz des Verbotes ambulante Abbrüche durch. Denn er hielt es für heuchlerisch, beschämend und medizinisch unverantwortlich, wenn Frauen in dieser seelischen Notsituation nicht nahe ihrem Wohnort ambulant behandelt werden können. Die Patientinnen zahlten für den Abbruch zwischen 250 und 400 Mark — Gespräche, Ultraschall und Nachsorge-Untersuchungen eingeschlossen. Armen Frauen half er kostenlos. Den Abbruch vermerkte er auf der jeweiligen Karteikarte. 1986 zeigte ihn eine ehemalige Mitarbeiterin wegen Steuerhinterziehung an. Mit dieser Anzeige kam einer der größten deutschen Strafprozesse ins Rollen:
Die Steuerfahndung beschlagnahmte die Geschäftsunterlagen der Arztpraxis, darunter auch die Patientenkartei. Das Steuerverfahren war relativ schnell erledigt. Doch die Patientenkartei wurde an die Memminger Staatsanwaltschaft weitergegeben, was rechts- und verfassungswidrig war. Denn die Beschlagnahme war gewissermaßen ‚ins Blaue’ erfolgt, also ohne irgendeinen Verdacht. Derartige Daten besitzen einen besonderen Vertrauensschutz. Ungeachtet dessen wurden Ermittlungen wegen illegalem Schwangerschaftsabbruch eingeleitet: Gegen 279 Frauen und 78 Männer wurden Ermittlungsverfahren wegen illegalem Schwangerschaftsabbruch oder Beihilfe dazu eingeleitet. Die meisten davon endeten mit einem Strafbefehl. Nur wenige der Verurteilten legten Einspruch ein und riskierten ein öffentliches Gerichtsverfahren. Theissen musste für sechs Wochen in Untersuchungshaft und kam erst durch eine Kaution in Höhe von 300 000 Mark frei. Die Anklage lautete auf Abtreibung in 156 Fällen.
Die Amtsrichter von Memmingen verweigerten die gesetzlich vorgeschriebene Beiziehung von Ärzten als Gutachter sondern waren der Meinung, selbst – und noch dazu viele Jahre danach – erkennen zu können, dass es in allen Fällen für die Frauen zumutbar gewesen wäre, ihre Föten auszutragen und die Kinder dann zur Adoption oder für Heime freizugeben. Nicht einmal der drohende Verlust des Arbeitsplatzes oder die Abhängigkeit von Sozialhilfe begründeten aus ihrer Sicht eine Notlage.
Der so genannte Memminger Prozess dauerte ein halbes Jahr (September 1988 bis Mai 1989) und wurde von den Medien intensiv ‚gecovert’: Das Verfahren fiel in die Zeit einer aufgeheizten politischen und gesellschaftlichen Debatte um die Rechtmäßigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen. Darüber hinaus gestaltete sich der Prozess durch die Verfahrensführung und die Art der Zeugenvernehmung so, dass vielfach Zweifel an der Neutralität der Strafkammer des Landgerichts geäußert wurden. Deshalb wurde der Prozess auch als ‚Moderner Hexenprozess’ bezeichnet. Dr. Theißen wurde nach einer Revision zu eineinhalb Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt.
Die betroffenen Frauen waren zwar ‚nur’ Zeuginnen, fühlten sich aber von Polizei, Gericht und Staatsanwaltschaft als ‚Angeklagte’ behandelt und wurden mitunter ‚versehentlich’ auch so angesprochen. Der vor Prozeßbeginn an die Zeuginnen versandte Fragebogen schlug ebenfalls hohe Wellen. Hierin wurde nicht nur nach der ärztlichen Betreuung und Beratung vor und nach dem Eingriff gefragt, sondern auch nach persönlichen, familiären und finanziellen Verhältnissen. Bei vollständiger und wahrheitsgemäßer Beantwortung wurde den Zeuginnen in Aussicht gestellt, nicht persönlich vor Gericht erscheinen zu müssen. 156 Frauen wurden als Zeuginnen vorgeladen, ihre Namen wurden im Prozess verlesen, 79 von ihnen wurden vor Gericht vernommen und zu intimsten Details teilweise öffentlich befragt, den restlichen 77 blieb schließlich zumindest der Auftritt vor Gericht erspart.
Pikanterweise stellte sich heraus, dass einer der besonders hartnäckig und gnadenlos verhörenden Richter seine eigene Freundin zu einem Schwangerschaftsabbruch veranlasst hatte. Er wurde erst nach längerem Widerstand abgelöst.
Von den ursprünglich 156 Fällen in der Anklageschrift des Memminger Prozesses wurden 77 im Laufe des Verfahrens eingestellt. Von den übrigen 79 Fällen wurde im erstinstanzlichen Urteil 36 Mal auf illegalen Schwangerschaftsabbruch nach § 218 StGB und vier Mal auf Versuch hierzu erkannt. Bei den restlichen 39 Fälle wurde zwar keine Indikationsfeststellung durch einen zweiten Arzt vorgenommen (Verstoß gegen § 219 StGB), das Vorliegen einer Notlage aber implizit durch das Gericht anerkannt. Diejenigen Frauen, die im Vorfeld des Prozesses Strafbefehle vom Memminger Amtsgericht erhalten und sich nicht gerichtlich dagegen gewehrt hatten, hatten nun umsonst bezahlt.
Dr. Theissen schloss nach dem Prozess seine Praxis in Memmingen und arbeitete fortan als Arzt für Naturheilkunde und Homöopathie in Hessen.
Weitere Informationen: ‚Memmingen: Abtreibung vor Gericht. Eine Dokumentation und Einschätzung zum Prozess’ von Elke Kügler, 1989, ISBN 3923722362