"Um der Schande zu entgehen“
Goethes Gretchen beruht auf einem historischen Fall
Susanne Margaretha Brandt trägt ein „völliges Todten-Kleid“, bestehend aus einer weißen Haube, einer weiße Leinenjacke mit schwarzen Kanten, einem ebensolchen Rock, weißen Handschuhen und einem zusammengefalteten weißen Taschentuch sowie einer Zitrone. Am Frankfurter Gerichtsplatz vor der Katharinenkirche schlägt ihr der 26jährige Scharfrichter Johann Heinrich Hoffmann am 14. Januar 1772 mit einem einzigen Schwertstreich den Kopf ab. Dafür wird er gelobt: „Er hat sein Amt wohl verrichtet und gethan, was Gott und die Obrigkeit befohlen hat.“ Wäre ihm die Vollstreckung nicht so geglückt und hätte er dadurch das Leiden der Unglücklichen verlängert, wäre ihm „schwere Verantwortung und Strafe zuteil“ geworden.
Gott und die Obrigkeit haben ein Todesurteil über die junge Magd gefällt, weil sie ihre Schwangerschaft verheimlicht und ihr neugeborenes Kind vorsätzlich ermordet hat, „um der Schande und des Vorwurfs der Leute zu entgehen, dass sie ein unehrliches Kind gebohren hat“. Sie arbeitet in einem Gasthaus und hat ihrer Arbeitgeberin bisher niemals Anlass zu Klagen gegeben. Ein durchreisender Holländer, dessen Namen sie nicht einmal weiß, hat sie mit Wein traktiert, ihr vielleicht sogar etwas hineingemischt, und die Willenlose verführt. Die Zitrone, die sie bei der Enthauptung trägt ist ein doppeltes Symbol: einerseits steht sie für ‚bittersüße Liebe’, andererseits soll sie die ‚arme Sünderin’ auch vor bösen Geistern schützen.
Bürgermeister und Rat der Kaiserlichen freien Reichsstadt Frankfurt am Main fällen das Todesurteil aus zwei Gründen, nämlich zur wohlverdienten Strafe nach den göttlichen und weltlichen Gesetzen sowie „anderen zum abscheulichen Exempel“. Die Rechtsgrundlage des Verfahrens ist das erste allgemeine deutsche Strafgesetzbuch, die so genannte Constitutio Criminalis Carolina, abgekürzt C.C.C., auch ‚Peinliche Gerichtsordnung’. Sie wird im Jahre 1532 auf dem Reichstag zu Regensburg unter Karl V. zum Reichsgesetz erhoben und gilt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, teilweise sogar bis ins 19. Jahrhundert.
Die Hinrichtung der armen und unverheirateten jungen Frau geht dem fast gleichaltrigen Johann Wolfgang Goethe nicht aus dem Kopf, sodass er sie als verführtes ‚Gretchen’ in seinem Faust verewigt. Im selben Jahrhundert gibt es zwei weitere Todesurteile in Frankfurt, nämlich in den Jahren 1745 und 1758, und beide Male geht es ebenfalls um eine Kindsmörderin. Da Frankfurt eine moderne und aufgeklärte Stadt ist, sieht man von dem im Strafgesetzbuch vorgesehenen Ertränken ab sondern lässt sie „nur mit dem Schwerd vom Leben zum Tod“ bringen.
Aus den überlieferten Prozessakten geht hervor, dass Susanne Brandt ihren Richtern und dem Verteidiger durchaus leid tut und dass sie erkennen, dass hier ein hilfloses armes Mädchen, das nichts ist, nichts kann und nichts hat, hineingelegt worden ist. Dennoch kann Kindsmord nicht geduldet werden, weshalb die Hinrichtung auch „anderen zum abscheulichen Exempel“ dient.
Die Hinrichtung ist also eine sozialhygienische Maßnahme. Dennoch ist klar, dass die Gemeinschaft auch anders vorsorgen könnte. Gerade Frankfurt ist reich an wohltätigen Stiftungen. Daher äußert Susanna Brandts Pflichtverteidiger Dr. Marcus Christoph Schaaf den Wunsch, ein Findelhaus einzurichten: „Als dann würde jede geschwächte Dirne, welche aus Furcht vor der Schande oder auch aus Mangel der erforderlichen Erhaltungsmittel Hand an ihre Frucht zu legen sonst verleitet wird, einen sicheren Zufluchtsort finden, um gleich traurigen Besorgnüssen glücklich entgehen zu können.... Möchte die unglückliche Brandin die letzte seyn, welche, um dem Verlust ihrer Ehre zu entgehen, sich der Gefahr eines größeren Verlusts ausgesezzet.“
Zitate aus: Siegfried Birkner, Das Leben und Sterben der Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt, Insel-Verlag,1975
Kirsten Peters: Der Kindsmord als schöne Kunst betrachtet. Eine motivgeschichtliche Untersuchung der Literatur des 18. Jahrhunderts, 2001