Helene Stöcker: "Alice Schwarzer der Goldenen Zwanziger Jahre"
Beim Lesen ihrer Gedanken meint man, sich in der Jahreszahl geirrt zu haben - so modern klingen sie. Beispielsweise habe die Gesellschaft „kein Recht, die Vermeidung der widerwilligen Mutterschaft der Frau als zuchthauswürdiges Verbrechen anzurechnen.“ Die Rede ist von Helene Stöcker (1869-1943), deutsche Frauenrechtlerin, Philosophin und Publizistin. Sie stellt die Frage, „wo und mit welchem Recht das Strafrecht einem Individuum verbiete, voll über sich selbst zu verfügen“.
An der Spitze des von ihr 1905 gemeinsam mit der Politikerin Lily Braun, der Frauenrechtlerin Henriette Fürth, dem Nationalökonomen und Soziologen Werner Sombarth und dem Sozialökonomen, Wirtschaftshistoriker und Soziologen Max Weber in Berlin gegründeten ‚Bundes für Mutterschutz und Sexualreform’ fordert sie die rechtliche Gleichstellung ehelicher und unehelicher Kinder und richtet Heime für ledige Mütter ein, da der Bann der Gesellschaft vor allem sie trifft. Stöcker engagiert sich auch für frühzeitige Sexualaufklärung, den Zugang zu Verhütungsmitteln und die Streichung des § 218.
Sie fungiert von 1906 bis 1932 als Herausgeberin der Zeitschrift ‚Die neue Generation’: „Wir haben vom ersten Tage unserer Bewegung an unsere Aufgabe als eine doppelte aufgefaßt; ebenso sehr als eine Aufgabe der sexuellen Reform wie der Sozialpolitik und der modernen Kultur überhaupt.“ Die Zeitschrift widmet sich tabuisierten Themen wie ‚Begnadigung einer Kindesmörderin’,‚Zulassung unehelicher Mütter zum Hebammenberuf’, ‚Gegen das Verbot der Abtreibung’, ‚Das Sexualleben der Lehrerin’ (Lehrerinnen verloren ihre Anstellung, wenn sie heiraten wollten oder gar unverheiratet schwanger wurden, Anm. d. Red.) etc.
Zur Verfolgung ihrer Ziele arbeitet sie eng mit Frauenrechtlerinnen, Sozialreformern, Medizinern und Juristen zusammen, wie Alfred Hegar (Gynäkologe), Julian Marcuse (Sozialreformer), Max Hirsch, Rosa Mayreder etc.
Geboren wird Helene Stöcker am 13. November 1869 in eine streng calvinistische Familie in Wuppertal; entsprechend konservativ sind auch ihre Schul- und Berufsausbildung: 1893 legt sie das Lehrerinnenexamen für höhere Mädchenschulen ab. Erst mit Mitte Zwanzig emanzipiert sie sich: Als eine der ersten zugelassenen Gasthörerinnen studiert sie an der Berliner Universität Literaturgeschichte, Philosophie und Nationalökonomie. Doch ein Universitätsabschluss wird den Frauen noch nicht erlaubt. Daher geht Helene Stöcker zuerst nach Glasgow und dann nach Bern, wo sie 1902 als eine der ersten Frauen in Literatur promoviert.
Sie wird zu einer der wesentlichen Stimmen der erstarkenden Frauenbewegung, setzt sich für das Frauenstudium ein und kämpft für die sexuelle Befreiung der Frauen ein; in ihrem späteren Leben ist sie eine vehemente Pazifistin und Kriegsdienstgegnerin. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wird es für sie ‚eng’: 1937 werden ihre Reichszugehörigkeit und Doktorwürde aberkannt, ihr Kontoguthaben beschlagnahmt, ihre Schriften auf die ‚Liste schädlichen und unerwünschten Schrifttums’ gesetzt und ihre Manuskripte vernichtet. 1938 wird ihr die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Sie kann über die Schweiz emigrieren und landet schließlich in den USA, wo sie bald darauf stirbt.
Quellen:
Zitate aus der Zeitschrift ‚Die neue Generation’ sind unter https://muvs.org/de/themen/medizin-zitate/helene-stoecker-die-neue-generation-1919/ zu finden.
Christl Wickerts Biografie über Helene Stöcker
Die Liste der von den Nationalsozialisten verbannten Bücher wird auf https://www.berlin.de/berlin-im-ueberblick/geschichte/berlin-im-nationalsozialismus/verbannte-buecher/ angezeigt.