Ledige Mütter anno dazumal waren nicht herzlos sondern verzweifelt
Anlässlich der aktuellen Sonderausstellung »Vor Schand und Noth gerettet«?! im Bezirksmuseum Josefstadt – für das wir einer der Leihgeber sind - beleuchten wir das Phänomen des Kindsmordes im 18. und 19. Jahrhundert.
Angesichts unserer mitteleuropäischen Lebensrealität mit sicheren, effektiven und verfügbaren Verhütungsmitteln, der Möglichkeit der anonymen Geburt, Adoptionsmöglichkeiten sowie dem Fehlen jeglicher Diskriminierung unehelich Geborener lesen wir historische Darstellungen von Kindsmorden – genauer gesagt: Neugeborenentötungen – mit Grausen.
Doch moralische Wertungen sind bei der Rückschau auf frühere Zeiten gefährlich. Was wir heute als „brutal“, „unmenschlich“ und „barbarisch“ empfinden, mag Notwendigkeiten entsprungen sein, die wir nicht mehr nachvollziehen können. Dazu müssen wir uns zuerst die soziale, medizinische und ökonomische Situation von Frauen vor Augen halten, die ungewollt schwanger wurden.
„Kinder kosten Geld“ – dieser Stoßseufzer mancher Eltern kommt uns bekannt vor. Was heute noch immer Gültigkeit hat, war unter finanziell sehr eingeschränkten Verhältnissen des 18. und 19. Jahrhunderts eine Katastrophe. Dabei geht es nicht nur um den Aufwand für Nahrung, Kleidung und Wohnraum für das Kind sondern auch um die zeitliche Inanspruchnahme der Mutter, wodurch ihre Möglichkeiten reduziert waren, zum Familieneinkommen beizutragen.
War die Frau hingegen alleinstehend, bedeutete ein (uneheliches) Kind in vielen Fällen sogar den Verlust ihres Arbeitsplatzes, damit verbunden der Wohnmöglichkeit und Verköstigung, also ihrer Existenz.
Verhütung war noch nicht „erfunden“
In unserer Zeit, in der die Zweikinderfamilie der statistische Durchschnitt ist, scheint es kaum vorstellbar, dass die „naturgewollte“ durchschnittliche Anzahl von Schwangerschaften bei fünfzehn und die daraus resultierenden Geburten bei rund zehn liegt. Die Verhütungsmöglichkeiten unserer Vorfahren waren aber entweder völlig wirkungslos oder für die Frau gesundheitlich gefährlich. Dazu kam das fehlende Wissen über den Mechanismus der Befruchtung – erst im Jahr 1929 konnte geklärt werden, welches die „gefährlichen“ – also fruchtbaren - und welches die „ungefährlichen“ – also unfruchtbaren - Tage sind. So waren Frauen ihrer Fruchtbarkeit also im wahrsten Sinne dem von ihnen so definierten „Gebärzwang“ ausgeliefert. Dazu kam, dass eine eingetretene Schwangerschaft erst vergleichsweise spät feststellbar war, denn die damaligen „Schwangerschaftstests“ hatten wenig Aussagekraft. Erst die einsetzenden Kindsbewegungen (im 4.-5. Monat) gaben der Frau Gewissheit.
Ausweglose Situation
Ärzte, Apotheker und Hebammen waren durch Berufseide und mangelndes Wissen gebunden und durften und konnten nicht helfen, hatten im Gegenteil sogar die Verpflichtung, bekanntgewordene Schwangerschaften der Obrigkeit zu melden. Wer kein Kind bekommen wollte oder sollte, stand daher vor Entscheidungen, wie sie heute keine/r von uns treffen möchte: Entweder das Wagnis einer späten Abtreibung mit gefährlichen Methoden einzugehen oder der Versuch, die Schwangerschaft geheim zu halten und das Neugeborene schnellstmöglich in Kost und Pflege zu geben – wenn die Mutter es bezahlen konnte. Nicht selten war damit die (unausgesprochene) Hoffnung verbunden, dass das unerwünschte Kind aufgrund von mangelhafter Ernährung und Vernachlässigung bald zu einem „Engerl“ werden würde – daher der Ausdruck „Engelmacherinnen“ für Frauen, die entsprechende Möglichkeiten anboten. Findelhäuser waren zwar in einigen Städten (z.B. Florenz, Paris, Freiburg i.Br., Ulm) schon um Jahrhunderte früher gegründet worden als bei uns, lange Zeit aber für Mädchen/Frauen aus nicht-privilegierten Schichten kaum erreichbar.
Doch wer plant schon kühlen Kopfes zwischen zwei unerträglichen Alternativen? Nicht wenige Frauen verschwiegen ihre Schwangerschaft und ignorierten sie so lange wie möglich, oder sie hofften immer noch, der „Erzeuger“ würde sie heiraten. Kam es dann zur Geburt, war Panik naheliegend. Weltliteratur und Gerichtsprotokolle sind voll von Beschreibungen über Selbsttötungen - „Sprung in den Brunnen“ – oder Kindsmorden (medizinisch präzise handelt es sich um Neugeborenentötungen). Kindsmorde waren vor allem in ländlichen Gebieten häufig, wo es relativ einfach war, sich der Leiche zu entledigen.
Flog die Tat jedoch auf, wurde die Frau hart bestraft. Gottfried August Bürger, einem deutschen Dichter des 18. Jahrhunderts, verdanken wir eine zu Herzen gehende Schilderung in „Des Pfarrers Tochter von Taubenhain“ (1778), Heinrich Pestalozzi beschrieb 1783, wie eine Kindsmörderin geköpft wurde: „Die Hand des Henkers schlug ihr das Haupt ab. Wie bang! wie bang! wie bang war's allen, die umherstanden, als sie fiel, die Enthauptete, von ihrem Stuhl. Wessen Herz schlug Unschuld und wessen Inneres zeugte dem Frömmsten und Besten: ich bin reiner als diese?
Sie war's nicht allein, in meinem Leben sah ich mehrere diese Strafe leiden. Zwar schien mir keine so rein, so edel, so in ihrer Unschuld geschlachtet wie diese. Alle, alle, von denen ich hörte, waren hingerissen zur Tat von Bildern grausamer Schrecknisse und marternder Beängstigungen.“
Unehelich zu sein war auch für das Kind eine Schande
Auch wenn die Frau ihr uneheliches Kind zur Welt brachte, waren dessen Zukunftsaussichten nicht rosig. Nicht nur die Frau galt als „verkommen“ auch das Kind wurde als „minderwertig“ angesehen: Unehelich Geborene und Findelkinder waren beispielsweise bis ins 19. Jahrhundert von vielen Handwerksberufen ausgeschlossen. Um als Lehrling angenommen zu werden, musste die eheliche Geburt durch entsprechende Urkunden oder Zeugnisse nachgewiesen werden. Selbst wenn die Eltern später noch heirateten, musste oft die Obrigkeit angerufen werden, damit ein Lehrling von der Zunft angenommen wurde. 1
Die eheliche Geburt musste noch ein zweites Mal nachgewiesen werden, nämlich wenn der Geselle um Aufnahme als Meister ansuchte. Auch die Ehefrau eines Meisters musste von ehelicher Geburt sein und durfte ihrerseits keine unehelichen Kinder haben. „Noch im 19. Jahrhundert sieht man scharf darauf, dass die Frau untadelig von Geburt und Wandel ist. 2
Zusammenfassend muss man feststellen, dass es bis vor etwa 100 Jahren kaum Auswege aus einer ungewollten Schwangerschaft gab. Die soziale Ächtung unverheirateter Mütter und unehelich geborener Kinder führte zu existenziellen Katastrophen, das medizinische Risiko der damals verfügbaren Abtreibungsmethoden war für die Gesundheit der Frauen extrem hoch. Auch wenn es für heutige Ohren brutal und herzlos klingt, war es für unsere Vorfahren sicherer, das ungewollte Kind auszutragen und anschließend zu töten – wobei die meisten Kindsmorde unentdeckt blieben.
Susanne Krejsa MacManus, Christian Fiala
1 Johannes Warncke: Handwerk und Zünfte in Lübeck, 2. Auflage, Lübecker Verlags Anstalt O. Waelde, 1937
2 Ebd.