Bielefeld-Schenkung fürs MUVS: Ein Zwischenbericht
Das Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch (MUVS) in Wien wurde im Jahr 2003 gegründet, 2007 eröffnet und ist weltweit das einzige Haus, das sich auf die Schwerpunkte Verhütung, Schwangerschaftstests und Schwangerschaftsabbruch in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konzentriert.
Für unsere Arbeit sind wir vielfach ausgezeichnet worden.
Aufgabe des Trägervereines ist die Wissensvermittlung sowohl im regulären Museumsbetrieb (real und virtuell) als auch durch tägliche Workshops für Jugendliche, weiteres der Ausbau der Sammlung, die Bewahrung von Vor- und Nachlässen einschlägiger Forscher:innen, sowie die Durchführung und Publikation eigener Forschungsprojekte. Dazu kommt ein ausgedehntes Archiv sowie eine umfangreiche Bibliothek, die vorwiegend aus Zukäufen, aber auch aus Dauerleihgaben von Privatpersonen und einer Schenkung der MedUni Wien entstanden ist – eine Bibliothek, die es in dieser Spezialisierung nirgends sonst gibt.
Schenkung aus Bielefeld: 2.250 Kilogramm Sammelbände
Im Dezember 2018 erhielt das MUVS das Angebot, medizinische Zeitschriftenbände aus der Bibliothek des Krankenhauses Bielefeld (Deutschland) zu übernehmen, wo sie im Jahr 2011 aufgrund von Platzbedarf ausgeräumt und anderswo zwischengelagert werden mussten. Im Jänner 2019 langten ca. 2.250 Kilogramm Sammelbände aus den Jahren 1900 bis 1999 zu den Fächern Gynäkologie, Geburtshilfe und deren bevölkerungspolitischen Auswirkungen ein.
Seit Oktober 2020 arbeiten zwei Studentinnen an den Beständen. Ihre Qualifikationen sind Ausbildungen an der Österreichischen Nationalbibliothek in Kombination mit einem Studium der Geografie, bzw. BA-Studium Geschichte und aktuell MA-Studium Historische Hilfswissenschaften und Archivwissenschaften.
Projektleiterin ist Susanne Krejsa MacManus, die bereits an der Gründung und dem Aufbau des MUVS beteiligt war.
Nach der ersten Sichtung, Ordnung und Sortierung der Schenkung wurden aus einigen Bänden mit Hilfe der Inhaltsverzeichnisse sowie durch minutiöses Durchblättern als Vorlage für die beiden Bearbeiterinnen beispielhaft alle möglicherweise relevanten Stichworte herausgefiltert und aufgelistet und im Lauf der Bearbeitungsprozesse angepasst bzw. erweitert.
Durch regelmäßige Abstimmungsgespräche zwischen den Bearbeiterinnen, der MUVS-Archivarin Claudia Grammer und der Projektleiterin konnten Fragen beantwortet sowie der Wissensstand der Bearbeiterinnen aktualisiert und ergänzt werden. Daraus wurden Protokolle mit interessierenden Stich- und Schlagworten, Autorennamen, Produktnamen etc. erstellt.
Vorgehensweise
Die Arbeitsschritte im Detail im Anschluss an die Erstellung der Inventarliste aller Bände:
- Inhaltsverzeichnis der Bände auf Suchbegriffe überprüfen
- Autorenverzeichnis auf relevante Personennamen überprüfen
- Bände nach relevanten Artikeln durchsuchen
- Relevante Artikel in eine Word-Tabelle eintragen
- Verweise zu anderen Publikationen in entsprechende Tabellen eintragen
- Tabelle der im 1. Durchgang als relevant identifizierten Artikel ausdrucken und mit dem jeweiligen Band an die Projektleiterin übergeben
Die Vorschlagslisten für die einzelnen Bände werden anschließend von der Projektleiterin durchgesehen, um zu entscheiden, welche Arbeiten tatsächlich inventarisiert werden sollen. Dabei geht es um eine Abgrenzung medizinhistorisch oder sozialpolitisch relevanter Arbeiten gegenüber all denen, die medizinisch zu sehr ins Detail gehen oder die andere Bereiche betreffen.
Diese zweite Beurteilung der Auswahl hat den Zweck, das Volumen auf ein vertretbares Maß einzuschränken. Zum anderen erlaubt auch erst die Zusammenschau mehrerer Jahre, ob ein publizierter Aspekt eine aufhebenswerte Überlegung enthält oder in so einer Vielzahl beleuchtet wurde, dass nur Überblicksarbeiten und Zusammenfassungen aufbewahrt werden sollen. Für diese Beurteilung ist auch die Kooperation mit der MUVS-Archivarin wichtig, die ihrerseits bereits vorhandenes Material überblickt, damit Doppelbearbeitungen vermieden werden können.
Ein konkretes Beispiel: Gerade die medizinische Weiterentwicklung nährt sich aus vielen kleinen Forschungsschritten, die oft im Einzelnen als unbedeutend interpretiert werden mögen, doch in der Zusammenschau wichtige Erkenntnisse erbringen können. Als Beispiel dafür sei die Spritzengarnitur „Interruptin“ genannt. Ende der 1920er Jahre entwickelte der Berliner Apotheker Heiser eine Paste aus pflanzlichen und pharmazeutischen Bestandteilen, die in die Gebärmutter eingebracht zum Abbruch einer Schwangerschaft führte. Die Paste schien eine so gute Wirkung zu haben, dass auch die Ärzteschaft darauf aufmerksam wurde. Sie sahen Interruptin bei sachgemäßer Anwendung durch den Arzt als Fortschritt in der schonenden Einleitung der ärztlich indizierten Schwangerschaftsunterbrechung an. In der Folge wurde das Mittel häufig angewandt. Aufgrund publizierter Einzelbeobachtungen fielen jedoch Nebenwirkungen und unerwartete Todesfälle auf. Nach dem anfänglichen Hype wurde die Anwendung des vermeintlichen Wundermittels zuerst eingeschränkt und schließlich verboten.
Die Anzahl von Publikationen zum Thema „Interruptin“ ist unüberschaubar. Alle aufzubewahren bringt dem heutigen Wissenstand keinen Nutzen und würde die Möglichkeiten des MUVS sprengen. Wichtig ist daher die Beschränkung auf einige Beispiele – positive wie negative – sowie auf abschließende Bewertungen und schließlich die Verwendung als Lehrmaterial zum Thema Wissenschaftsstatistik: Wenn es viele Todesopfer in kurzer Zeit gibt, fallen sie auf; sind sie hingegen über Jahre verstreut, übersieht man sie leicht.
Nach Begutachtung und inhaltlicher Abwägung kommen die überprüften Bände samt Vorschlaglisten zurück zu den Bearbeiterinnen, die die Tabellen überarbeiten. Die als ungeeignet deklarierten Bände werden in die Skartierungsliste eingetragen. Die positiv bewerteten Bände werden mit der aktuellen/überarbeiteten Tabelle zum Scannen bereitgelegt. Sobald eine Gesamtseitenzahl von mind. 350 Seiten erreicht ist, kommen die Bände samt Scanliste zur Archivarin. Die gescannten Einzelartikel werden anschließend in den Bestand des MUVS aufgenommen und sowohl im PDF-Format als auch OCR-gelesen zum Download auf die Webseite hochgeladen. Wo das aus rechtlichen Gründen nicht möglich ist, wird nur die erste Seite ‚sichtbar‘ gemacht, die komplette Arbeit auf Nachfrage aber gerne Interessierten zur Verfügung gestellt.
Aus sowohl platztechnischen als auch nutzungstechnischen Gründen muss entschieden werden, welche Bände schließlich in ihrer Gesamtheit aufbewahrt werden sollen und welche abgegeben werden können. Die großformatigen Sammelbände umfassen im Durchschnitt je ca. 900 Seiten, kleinere Zeitschriftenformate enthalten rund 650 Seiten. Wenn sich in einem Band nur ein oder zwei wichtige Aufsätze finden, dann werden sie nach dem Scannen der für uns relevanten Teile an eine befreundete Bibliothek weitergegeben. Beiblätter und Werbebroschüren, die sich vereinzelt in Bänden finden, werden getrennt gesammelt und ggf. an Firmenarchive weitergeleitet.
Es soll auch betont werden, dass unsere beiden Studentinnen ermutigt wurden, für sie relevante Arbeiten für den Eigengebrauch zu nützen.
Bisherige Resultate
Zwischen Oktober 2020 und Ende 2021 wurden in rund 1.200 Arbeitsstunden etwa 420 Sammelbände bearbeitet – rund ein Drittel der Gesamtmenge. Die Bearbeitung eines Bandes dauert je nach Volumen, Zustand und Ergiebigkeit zwischen zwei und unzählbar vielen Arbeitsstunden.
Der Großteil der Bände ist in gutem oder sogar sehr gutem Zustand, vor allem die neueren Bände (ab den 1960er-Jahren). Die Bände aus den Kriegsjahren sind erwartungsgemäß in schlechterem Zustand (wegen höherem Holzschliffanteil säurehaltiger und splittern deshalb leichter). Wegen der schwierigen Zwischenlagerungsbedingungen haben einige Bände Wasser- und Brandschäden, wobei die Wasserschäden von oberflächlich bis schwerwiegend reichen. Brandschäden betreffen nur die Einbände, aber nicht den Buchblock. Bei einigen Bänden hat der Einband an Stabilität verloren. Bereits bei der Übernahme wurden Bände mit Schädlingsschaden oder Schimmelpilzbefall aussortiert.
Wozu der Aufwand?
Bibliothek und Archiv des MUVS sind aus Gründen der beschränkten Personalkapazität nicht öffentlich zugänglich. Stattdessen wird so viel wie möglich über unsere Webseite muvs.org/de bzw. muvs.org/en zur Verfügung gestellt. Damit entsprechen wir der Mission des MUVS, das als weltweit einziges Museum seiner Thematik Besucher:innen der ganzen Welt erreichen will, auch denen eine Reise nach Wien nicht möglich ist. Aus diesem Grund sind auch virtuelle Museumstouren und extern abrufbare Audioguides über die Homepage verfügbar. All diese Angebote stehen allen Menschen gratis zur Verfügung und werden intensiv genutzt. Das gilt auch für Schüler:innen, die sich im Rahmen von Seminararbeiten oder Vorwissenschaftlichen Arbeiten mit einschlägigen Themen beschäftigen und sich nach einiger ‚Ermutigung‘ durch uns selbständig in die Angebotsfülle unserer Webseite einarbeiten.
Ausstellungsgestalter:innen, Studierenden, Unterrichtende, Wissenschafter:innen, Autor:innen, Filmemacher:innen etc. aus der ganzen Welt wenden sich zunehmend mit spezifischen Fragestellungen an uns, die ein spezielles Literaturservice/Archivservice erfordern. Ein markantes Beispiel war etwa die Anfrage eines Forschers, der den medizinischen Quellen in den Werken des österreichischen Dramatikers Arthur Schnitzler (1862–1931) auf den Grund gehen wollte. Sowohl die Romane Frau Berta Garlan (1900) und Therese, Chronik eines Frauenlebens (1928) als auch das Theaterstück Professor Bernhardi (1912) beleuchten sehr ausführlich ungewollte Schwangerschaften und verbotene Abtreibungen.
In solchen Fällen liefern wir Material zu bzw. bereiten Auswahlen vor, die bei uns eingesehen werden können. So können wir unter Heranziehung von aufgearbeiteter Literatur wie im Fall der Bielefelder Schenkung oder unserer Objektsammlung Forschungen und Dokumentationen ermöglichen, die ansonsten kaum oder nur mit unverhältnismäßig großem Aufwand zustande kommen könnten. Weiters ist die hauseigene Forschung zu nennen, die regelmäßig zu Publikationen bisher nicht bearbeiteter Themen führt und uns viel Akzeptanz durch nationale und internationale Wissenschaftsgremien bringt. Auch die erwähnten Anfragen geben uns gelegentlich Anstöße für eigene Newsletter oder andere Berichte.
Schließlich dient unsere Bibliothek auch als gerne nachgefragte Quelle für Abbildungen, sei es für Publikationen, sei es für Ausstellungen.
Zusammenfassung
Museen kommen zunehmend in Platzbedrängnis, sodass sie umfangreiche Schenkungsangebote entweder ganz ablehnen oder nur in Zusammenhang mit einer Zusatzfinanzierung annehmen können. Dadurch geht Wissenschafter:innen wertvolles Kulturgut verloren, das durch anderweitig verfügbare Online-Angebote nur in seltenen Fällen ersetzbar ist. Dank der Initiative des Trägervereins des Museums für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch (MUVS) in Wien konnte ein großer Bestand medizinischer und sozialpolitischer Zeitschriften nicht nur gerettet, sondern auch aufgearbeitet und zugänglich gemacht werden. Die Größenordnung dieses Projektes stellte das MUVS sowohl hinsichtlich inhaltlicher Fragestellungen als auch hinsichtlich der Abwicklung vor spannende neue Herausforderungen. Der vorliegende Projektbericht soll darlegen, welchen wichtigen Beitrag auch ein kleines, sehr spezialisiertes Haus leisten kann.
Susanne Krejsa MacManus, Christian Fiala, Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch (MUVS), Wien