Annie Ernaux: Die Jahre (2019)
... Diesem Gefühl der Dringlichkeit war es auch geschuldet, dass man nach einem Klammerblues auf einem Feldbett oder am Strand lag und den Penis eines Mannes - etwas, was man, wenn überhaupt, nr von Fotos kannte - und Sperma im Mund hatte, nachdem einem im letzten Moment voller Panik der Knaus-Ogino-Kalender eingefallen war und man die Schenkel zusammengepresst hatte.
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... Die Jungen verschmähten Kondome und verweigerten den Coitus interruptus, den ihre Väter praktiziert hatten. Man träumte von der Antibabypille, die es angeblich in Deutschland zu kaufen gab. An Samstagen heirateten reihenweise Mädchen im weißen Schleier, die sechs Monate später verdächtig robuste Frühchen zur Welt brachten. ...
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... Unser Sexleben war nach wie vor rudimentär und fand heimlich statt, immer begleitet von der Angst vor dem "Unfall". Es wurde erwartet, dass man bis zur Ehe enthaltsam lebte. ... Ganz Wagemutige gingen in eine illegale Beratungsstelle, ließen sich ein Gummidiaphragma verschreiben und setzten es sich mühevoll ein.
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Falls man in einem Pinienwald oder an einem Strand der Costa Brava nicht rechtzeitig Angst bekommen hatte, blieb, wenn der Schlüpfer auch nach Wochen noch blütenweiß war, abrupt die Zeit stehen. Dann musste "es weggemacht werden". Die Reichen fuhren in die Schweiz, alle anderen legten sich auf den Küchentisch einer fremden Frau ohne medizinische Ausbildung, die eine Stricknadel in einem Topf voller Wasse abkochte. Simone de Beauvoir zu lesen, bestätigte nur, dass es Pech war, eine Gebärmutter zu haben. So maß man weiterhin täglich die Körpertemperatur, als wäre man krank, und berechnete die gefährlichen Tage, drei von vier Wochen. Man lebte in zwei verschiedenen Zeitrechnungen, der Zeit der anderen, in der man Referate hielt und sich auf die Semesterferien freute, und der, die immer stehen bleiben konnte, der beängstigend launischen Zeit des Blutes.
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Das größte Verbot fiel, was man nie für möglich gehalten hätte, die Antibabypille wurde per Gesetz erlaubt. Man wagte nicht, den Arzt danach zu fragen, und er bot sie nicht an, vor allem nicht, wenn man unverheiratet war. Das wäre unanständig gewesen. Man ahnte, dass die Pille das Leben auf den Kopf stellen würde, man wäre seinem Körper nicht mehr hilflos ausgeliefert, man wäre frei, beängstigend frei, so frei wie ein Mann.
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Verhütung war ein zu großes Tabuthema, als dass man es im Kreise der Familie angeschnitten hätte. Abtreibung ein unaussprechliches Wort.
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Später würde man sich nicht mehr an das genaue Datum erinnern, nicht einmal mehr an den Monat - auf jeden Fall war es im Frühling -, sondern nur noch daran, dass man sämtliche Namen gelesen hatte, vom ersten bis zum letzten - es waren so viele, und man selbst hatte sich so allein gefühlt mit der Stricknadel und dem Blut, das auf das Laken spritzte -, die Namen aller 343 Frauen, die im Nouvel Observateur erklärten, abgetrieben zu haben. Trotz der gesellschaftlichen Ächtung schloss man sich jenen an, die für die Abschafftung des Gesetzes aus dem Jahr 1920 kämpften, damit Abtreibungen endlich von Ärzten durchgeführt werden konnten. Man kopierte im Lehrerzimmer Flugblätter und warf sie nach Einbruch der Dunkelheit in Briefkästen, man sah sich den Dlimentrarfilm Die Geschichte der A. an, man brachte schwangere Frauen in eine Privatwohnung, wo ein befreundeter Arzt kostenlos den ungewollten Fötus absaugte. Einen Schnellkochtopf zur Desinfizierung der Instrumente und eine umgebaute Luftpumpe zum Absaugen, mehr brauchte es nicht: Doktor Karman hatte die Arbeit der Engelmacherinnen vereinfacht und sicherer gemacht. Man gab Adressen in London und Amsterdam weiter. Die Illegalität hatte etwas Aufregendes, man fühlte sich wie die Erben der Résistance-Kämpfer und der "Kofferträger", der Sympathisanten des algerischen Freiheitskampfes. Die Anwältin Gisèle Halimi, die schon die FLN- Kämpferin Djamila Boupacha vertreten hatte und die nach dem Abtreibungsprozess von Bobigny im Blitzlichtgewitter der Journalisten so schön aussah, verkörperte diese Kontinuität - so wie die Abtreibungsgegner von Laissez-les-vivre und Professor Lejeune, der im Fernsehen schockierende Bilder von Föten zeigte, die Kontinuität des Vichy-Regimes verkörperten. Als wir eines Samstagnachmittags unter dem tiefblauen südfranzösischen Himmel zu Tausenden hinter Transparenten hermarschierten, kam uns der Gedanke, dass man zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte etwas dagegen tun konnte, dass Frauen sinnlos verbluteten. Man würde uns nicht vergessen.