Arthur Schnitzler: Frau Berta Garlan (1900)

Während sie an einer Gruppe von Kindern vorbeiging, dachte sie, wie sonderbar es wäre, daß sie keinen Moment an mögliche Folgen ihres gestrigen Abenteuers gedacht. Aber ein Zusammenhang zwischen dem, was gestern geschehen, zwischen diesen wilden Umarmungen in einem fremden Bett - und einem Wesen, das einmal zu ihr 'Mutter' sagen sollte, schien außerhalb jeder Möglichkeit zu liegen.
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Als sie ins Vorzimmer kam, sah sie eben Doktor Friedrich, der den Überzieher ablegte und während dieser Zeit mit einem jungen Arzt sprach. Er bemerkte Berta nicht, und sie hörte ihn folgendes sagen: 'In jedem andern Fall hätt' ich die Anzeige erstattet, aber da die Sache so ausgeht. Überdies wär' es ein entsetzlicher Skandal, und der arme Rupius litte am meisten darunter.'
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Und zugleich tauchte die Erinnerung in ihr auf, an jenen Spaziergang vor zwölf Jahren, da Emil sie geküßt und sie das erste Mal heiße Sehnsucht nach einem Kind empfunden. Warum hatte sie keine empfunden, als sie neulich in seinen Armen lag? Ja, nun wußte sie: sie hatte nichts anderes wollen als die Lust eines Augenblicks, sie war nicht besser gewesen als eine von der Straße, und es wäre nur eine gerechte Strafe des Himmels, wenn auch sie an ihrer Schande so zugrunde ginge wie die Arme, die da drin lag.
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Und sie ahnte das ungeheure Unrecht in der Welt, daß die Sehnsucht nach Wonne ebenso in die Frau gelegt ward als in den Mann; und daß es bei den Frauen Sünde wird und Sühne fordert, wenn die Sehnsucht nach Wonne nicht zugleich die Sehnsucht nach dem Kinde ist.


Bildquelle: www.amazon.de (2008)