Bertolt Brecht: Von der Kindsmörderin Marie Farrar (1922)
Marie Farrar, geboren im April
Unmündig, merkmallos,rachitisch, Waise
Bislang angeblich unbescholten, will
Ein Kind ermordet haben in der Weise:
Sie sagt, sie habe schon im zweiten Monat
Bei einer Frau in einem Kellerhaus
Versucht, es abzutreiben mit zwei Spritzen
Angeblich schmerzhaft, doch ging's nicht heraus.
Doch ihr, ich bitte euch, wollt nich in Zorn verfallen
Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.
Sie habe dennoch, sagt sie, gleich bezahlt
was ausgemacht war, sich fortan geschnürt
Auch Sprit getrunken, Pfeffer drin vermahlt
Doch habe sie das nur stark abgeführt. Ihr Leib sei zusehends geschwollen, habe
Auch stark geschmerzt, beim Tellerwaschen oft.
Sie selbst sei, sagt sie, damals noch gewachsen.
Sie habe zu Marie gebetet, viel erhofft.
Auch ihr, ich bitte euch, wollt nich in Zorn verfallen
Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.
Doch die Gebete hätten, scheinbar, nichts genützt.
Es war auch viel verlangt. Als sie dann dicker war
Hab ihr in Frühmetten geschwindelt. Oft hab sie geschwitzt
Auch Angstschweiß, häufig unter dem Altar. Doch hab den Zustand sie geheimgehalten
Bis die Geburt sie nachher überfiel
Es sei gegangen, da wohl niemand glaubte
dass sie, sehr reizlos, in Versuchung fiel.
Und ihr, ich bitte euch, wollt nich in Zorn verfallen
Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.
An diesem Tag, sagt sie, in aller Früh
Ist ihr beim Stiegenwischen so, als krallten
Ihr Nägel in den Bauch. Es schüttelt sie.
Jedoch gelingt es ihr, den Schmerz geheimzuhalten.
Den ganzen Tag, es sei beim Wäschehängen
Zerbricht sie sich den Kopf; dann kommt sie drauf
Dass sie gebären sollte, und es wird ihr
Gleich schwer ums Herz. Erst spät geht sie hinauf.
Doch ihr, ich bitte euch, wollt nich in Zorn verfallen
Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.
Man holte sie noch einmal, als sie lag
Schnee war gefallen, und sie mußte kehren.
Das ging bis elf. Es war ein langer Tag.
Erst in der Nacht konnt sie in Ruhe gebären.
Und sie gebar, so sagt sie, einen Sohn.
Der Sohn war ebenso wie andere Söhne.
Doch war sie nicht, wie andre Mütter sind obschon -
Es liegt kein Grund vor, dass ich sie verhöhne.
Doch ihr, ich bitte euch, wollt nich in Zorn verfallen
Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.
So lasst sie also weiter denn erzählen
wie es mit diesem Sohn geworden ist
(Sie wolle davon, sagt sie, nichts verhehlen)
Damit man sieht wie ich bin und du bist.
Sie sagt, sie sei, nur kurz im Bett, von Übelkeit stark befallen worden, und allein
Hab sie, nicht wissend, was geschehen sollte
Mit Mühe sich bezwungen, nicht zu schrein.
Und ihr, ich bitte euch, wollt nich in Zorn verfallen
Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.
Mit letzter Kraft hab sie, so sagt sie, dann
Da ihre Kammer auch eiskalt gewesen
sich zum Abort geschleppt und dort auch (wann weiß sie nicht mehr) geborn ohn Federlesen
So gegen Morgen zu. Sie sei, sagt sie
Jetzt ganz verwirrt gewesen, habe dann
Halb schon erstarrt, das Kind kaum halten können
Weil es in den Gesindabort hereinschnein kann.
Und ihr, ich bitte euch, wollt nich in Zorn verfallen
Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.
Dann zwischen Kammer und Abort - vorher, sagt sie
Sei noch gar nichts gewesen - fing das Kind zu schreien an, das hab sie so verdrossen, sagt sie
Dass sie's mit beiden Fäusten, ohne Aufhörn, blind
So lang geschlagen habe, bis es still war, sagt sie.
Hieraus hab sie das Tote noch durchaus
zu sich ins Bett genommen für den Rest der Nacht
Und es versteckt am Morgen in dem Wäschehaus.
Doch ihr, ich bitte euch, wollt nich in Zorn verfallen
Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.
Marie Farrar, geboren im April
gestorben im Gefängnishaus zu Meißen
Ledige Kindesmutter, abgeurteilt, will
Euch die Gebrechen aller Kreatur erweisen.
Ihr, die ihr gut gebärt in saubren Wochenbetten
und nennt "gesegnet" euren schwangren Schoß
wollt nicht verdammen die verworfnen Schwachen
Denn ihre Sünd war groß, doch ihr Leid war groß.
Darum ihr, ich bitte euch, wollt nich in Zorn verfallen
Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.
Bildquelle: www.amazon.de (2008)