Emile Zola: Fruchtbarkeit (1899)
Eines Tages sprach er das Wort Cyste aus, ohne aber etwas festzustellen; sogleich tauchte der Name Gaudes auf, und die Operation war grundsätzlich beschlossen. Aber es gingen noch Tage hin, denn sie hatte Angst, wirkliche tödliche Angst, in die sich alle Arten von Befürchtungen über mögliche Folgen mischten. Bei jedem seiner Besuche fragte sie ihn nun eindringlich, leidenschaftlich aus, suchte Mut zu fassen, wollte hauptsächlich wissen, was aus ihren Frauenwünschen werden würde. Freundinnen hatten ihr Furcht eingejagt, hatten ihr gesagt, sie würde dann kein Weib mehr sein, sondern kalt und unfähig zum Genusse. Dies war die Befürchtung, die ihr letztes Zögern veranlaßte: die Funkton vernichten, indem man das Organ vernichtete, das Kind vernichten - das ja, sie verfolgte keinen anderen Zweck, sie würde sich nur, um davon befreit zu werden, unter das Messer begeben; aber die Begierde vernichten, den Genuß töten, auf dessen Freiheit und Zügellosigkeit sie brannte, das wäre eine ungeheuerliche Narretei, an der sie vor Zorn und Scham gestorben wäre. Der Arzt lächelte gelassen, zuckte die Achseln, behandelte diese Mitteilungen als müßige Redereien, versicherte ihr, daß neun- unter zehnmal die operierten Frauen sich verjüngen, bis zu fünfzig Jahren frisch bleiben, sich im Gegenteil als noch leidenschaftlicher erweisen, was sogar als einer der Nachteile der Operation zu betrachten sei.
Als Mainfroy ihr diese Versicherung gab, hieß Sérafine ihn schweigen, wie von einer schamhaften Verwirrung ergriffen. Aber ihr glühendes Gesicht strahlte.
"Ach, Herr Doktor, Sie werden mich am Ende dann noch behandeln müssen, um mich zu beruhigen... Ich scherze und lache, aber ich versichere Ihnen, daß ich seit gestern furchtbare Schmerzen ausstehe. Und der Gedanke ist so schrecklich, daß man vielleicht eine tödliche Krankheit mit sich herumträgt... Was wollen Sie? Ich habe große Angst, aber ich gebe nach, Sie bringen mich zu Gaude, und ich will mich seinen Händen überlassen, da Sie sagen, daß er Wunder vollbringt!".
"Gewiß", sagte Mainfroy. "Alle Zeitungen beschäftigen sich mit seiner letzten Operation. Er hat seit einigen Monaten überwältigende Erfolge aufzuweisen. Sie wissen, daß er diese Arbeiterin, Euphrasie, von der ich Ihnen erzählt habe, wiederhergestellt hat. Sie ist jetzt in ihren Haushalt zurückgekehrt, es geht ihr besser als je , und Ihr Fall scheint mit dem dieser Frau einige Ähnlichkeit zu haben, denn soviel ich höre, hat sie an einer sehr bösartigen Cyste gelitten."
"Richtig!" rief Sérafine aus, " ich hatte mir ja vorgenommen, sie zu besuchen und auszufragen. Warten Sie noch, ehe Sie mit Gaude eine Zusammenkunft verabreden, ja?"
Seit Euphrasie Moineaud mit Auguste Bénard dem jungen Maurer mit dem lustigen Gesichte verheiratet war, der sich in das herbe, magere Persönchen verliebt hatte, wohnte sie Rue Caroline, in Grenelle, in einem großen Raum, der als Küche, Eßzimmer und Schlafzimmer diente. Es gab noch ein enges, lichtloses Kabinett, das später, als nach keim vierjähriger Ehe drei Kinder da waren, als Schlafraum für die beiden ältesten Mädchen, Zwillinge, benutzt wurde. Die Wiege des Jüngsten eines Knaben, blieb am Fußende des Bettes der Eltern. Und Euphrasie, die die Fabrik hatte verlassen müssen, da ihr Haus und ihre Kinder sie zu sehr in Anspruch nahmen, vollbrachte hier Wunder an Reinlichkeit und regierte als fruchtbare absolute Herrscherin, der alles gehorchte - als sie infolge ihrer letzten Niederkunft von schrecklichen Schmerzen befallen wurde, die sie fast lähmten. Offenbar hatte sie sich zu früh wieder an die Arbeit begeben. Lange kämpfte sie, brachte ihren Mann zur Verzweiflung, der, ein so großer starker Mensch er auch war, vor dieser blonden Heuschrecke zitterte, so sehr unterdrückte und schüchterte sie ihn ein mit ihren boshaften Sticheleien. Endlich entschloß sie sich, ins Spital zu gehen; und nun war sie aus der Klinik des Doktors Gaude operiert und geheilt heimgekehrt. Seit zwei Wochen sprachen die Zeitungen von dieser letzten Tat des berühmten Chirurgen, erzählten die rührende Geschichte der jungen anständigen Arbeiterfrau, die von einem schrecklichen Leiden befallen war und nun vom sicheren Tode gerettet, ihrem Manne und ihren Kindern wiedergegeben, gesunder und kräftiger war als je. Das war das Meisterstück, das überzeugende Beispiel, das allen Damen vorgehalten wurde, die sich der Operation unterziehen wollten.
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In dem Spital herrschte Gaude über seine drei Frauenkrankensäle als allmächtiger und glorreicher Gebieter. Er war ein Kliniker ersten Ranges, der über eine Hand von unvergleichlicher Festigkeit und Geschicklichkeit gebot, ein ausgezeichneter Kopf, rücksichtslos und gutgelaunt. Er war stolz über seine Kunst, vollkommen skrupellos, aber niedriger Berechnung und gemeiner Handlungsweise un fähig; und wenn er Geld machte, wenn er seine Zutreiber mit einem ganzen System hoher Provisionen, einer ganzen Industrie zur Ausbeutung reicher Patienten hatte, so war er doch noch glücklicher über den lärmenden Ruhm, den ihm seine Kunst eintrug, als über das Geld. Er arbeitete im vollen Lichte der Öffentlichkeit, er hätte ganz Paris an seinen Operationstisch laden mögen. Porträts, Stahlstiche und Zeichnungen hatten ihn populär gemacht, stellten ihn bei der Arbeit dar, die große weiße Schürze über der Brust, die Ärmel zurückgestreift, schön wie ein Gott, der mit dem Messer über das Leben gebietet. Er war einzig artig in der Kunst, einen Leib zu öffnen, hineinzusehen, und ihn wieder zuzunähen, alles mit seiner ruhigen Groß artigkeit. Manchmal öffnete er noch einmal, um sich besser zu überzeugen. Dank der Antisepsis war eine Operation nur noch eine Spielerei, er entschloß sich dazu um ein Nichts, lediglich um des Vergnügens willen, etwas festzu stellen. So viel Frauen zu ihm kamen, so viele wurden operiert. Wenn er sich in der Diagnose geirrt hatte und das Organ gesund fand, nahm er doch etwas weg, um nicht umsonst geschnitten zu haben. Und von einem Ende der Stadt zum anderen verbreitete sich der Ruf seiner Erfolge, feierte man diese wunderbare Meisterschaft, die er sich durch die Übung an Tausenden armer Frauen in seiner Klinik erworben hatte - eine Meisterschaft, die aus ihm ein Idol machte, das man mit Gold überhäufte, den souveränen Kastrierer aller verdrehten Millionärinnen.
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In diesem Augenblick ging eine freudige Bewegung durch den Saal. Gaude erschien, außerhalb seiner regel mäßigen Visiten, wie er es manchmal tat, um seinem ge horsamen kleinen Volk von Kastrierten einen Beweis seiner väterlichen Fürsorge zu geben. Er war nur von einem Assistenten begleitet, einem kräftigen jungen Mann namens Sarraille, mit verschmitzten Augen in einem ge wöhnlichen Gesicht. Gaude selbst, ein großer, schöner, rotblonder Mann, sorgfältig rasiert, mit kräftigen Zügen, aus denen Lebensfreude und Rücksichtslosigkeit sprachen, strahlte von Klugheit und Kraft. Er durchschritt den Saal als souveräner Herrscher und sprach mit seinen Patienten in dem Tone eines leutseligen Fürsten, der sich zu seinen Untertanen herabläßt. Und als er eine seiner Frauen, die er "kleines Schätzchen" nannte, weinen sah, kam er an dhr Bett und fragte nach der Ursache ihres Kummers. Als er sie erfuhr, lächelte er mit liebenswürdiger Nachsicht.
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Mathieus Herz zog sich zusammen beim Anblick dieser greisenhaften Verschüchterung, dieses zitternden Gehorsams einer Frau, die er einst so tyrannisch und aufbrau send, so hart und scharf gekannt hatte, in fortwährendem Hader erst mit ihrer älteren Schwester, dann mit ihrem Manne. Sie hatte ihn lange Zeit mit ihrer bissigen Art ter rorisiert, ihn unter alle ihre Launen gebeugt. Jetzt war sie es, die bei jeder üblen Laune zitterte. Die Frau, das Wesen voll Eigenwillen, Arbeitskraft und Leben war ver nichtet worden, als die Gattin und Mutter vernichtet wurde. Und zu denken, daß dieser Fall in den Berichten noch immer als Erfolg, als ein Wunder Gaudes prangte, der stolz war auf diese junge, anständige Arbeiterfrau, die vom sicheren Tode gerettet und ihrem Manne und ihren Kindern wiedergegeben war, gesünder und kräftiger als je! Wie recht hatte Boutan, wenn er sagte, man müsse warten, um über die wahren Erfolge dieser schönen, sieg reichen Operationen urteilen zu können!
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Sie zog ihre Handschuhe aus und legte Hut und Schleier ab. Er sah sie, wie sie ihm bereits bei ihren gelegentlichen Begegnungen erschienen war, aber wahres Entsetzen faßte ihn, als er sie nun näher betrachtete und sah, welch furcht barer Verwüstung sie anheimgefallen war. Er rief sich in Erinnerung, wie sie vor wenigen Jahren mit fünfunddreißig noch ausgesehen hatte, die dreiste Schönheit ihres Gesichtes, ihre hohe, gebietende Gestalt, ihr flammendes Haar, die herausfordernden Brüste und Schultern, ihre weiße, runzellose Haut. Welch furchtbarer Gifthauch war über sie hingefahren, daß sie plötzlich so gealtert war, einem Gespenste gleich, als ob der Tod sie schon erfaßt hätte, und er das fleischlose Skelett der Frau vor sich sähe, die er einst triumphierend gekannt hatte? Sie war hundert Jahre alt.
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Dann hatte der allmähliche Verfall begonnen, die Anzeichen einer vorzeitigen Greisenhaftigkeit traten eins nach dem anderen auf. Sie war kein Weib mehr, es schien, als habe das amputierte Geschlecht alles mit sich genommen, was ihren Reiz und ihren Stolz ge bildet hatte. Da sie weder Gattin noch Mutter sein konnte, wozu die sieghafte Schönheit der Gattinnen und Mütter? Die Haare fielen ihr aus, ihre Zähne wurden gelb und locker. Dazu kam zunehmende Schwäche der Augen, und ein fast unaufhörliches Summen in den Ohren machte sie rasend. Aber was sie am meisten entsetzte, das war diese Abmagerung, die sie austrocknete, zum Skelett machte und ihre Haut runzelte, und gelb, hart und spröde wie Pergament werden ließ.
Und in ihrer rasenden Verzweiflung rief sie aus: "Oh, Sie sehen noch nicht alles, mein Freund; da, sehen Sie her!" Mit beiden Händen riß sie ihr Kleid auf. Brust und Schultern kamen zum Vorschein, die ganze Verwüstung ihrer Schönheit, der ganze schreckliche Verfall ihres Kör pers, einst so warm, so blühend und so duftend und nun ausgemergelt, verdorrt, gleich einer abgefallenen Frucht, die verdirbt. Es war der Ruin ihrer lüsternen Nacktheit, die Vernichtung der Liebe für immer. Und ihre Hände zitterten vor zornerfüllter Scham, als sie sich furchtsam wieder bedeckte, um dieses vorzeitige Altern zu verbergen, wie ein häßliches Geschwür, das an ihr fraß.
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Sie war aufgestanden und schritt auf und ab, immer rückhaltloser alles heraussagend, so von Seelenleiden ge foltert, daß die Abscheulichkeit ihrer Geständnisse sich zu einer Art wilder Größe erhob. Sie gab gemeine Einzel heiten, als ob sie nicht zu einem Mann spräche, und er erbebte vor mitleidigem Entsetzen, ohne verletzt zu sein, so zeigte sich in dem wütenden Aufschrei ihrer Ohnmacht das menschliche Elend. Oh, wie sie sie beneidete, die anderen Operierten, die, wo sie alles verloren, auch die Begierde verloren hatten, wie jene Euphrasie Moineaud zum Beispiel, die zum Nichts geworden, deren Körper er kaltet war! Sie waren nur noch unbeseelte Dinge, sie konnten leben, wie diese kleine Cécile, diese Jungfrau, die nie etwas gewußt hatte und nie etwas wissen würde. Aber sie Unselige verzehrte sich um das erstorbene Gefühl, sie, in der die überreizte, ungesättigte Begierde noch immer brannte und die sie nun nicht mehr befriedigen konnte. Gab es eine Vorstellung für diese teuflische Folter, nur noch das Nichts zu umarmen, den Genuß leer zu trinken, ihn nie mehr zu erlangen, wie angestrengt, wie rasend man ihn auch verfolge! Erschöpfung, Nervenanfälle, die sie gebrochen ließen, ja - aber Genuß, keinen, keinen mehr!
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Sie sprachen noch miteinander, als Sérafine durch einen unerwarteten Besuch in großes Erstaunen versetzt wurde. Es war Constance, die endlich ihren Entschluß ausgeführt hatte, zu Gaude zu gehen, und nun eben von ihm herkam. Nie noch war sie um diese Zeit gekommen. Aber ins Herz getroffen durch das, was der Arzt ihr gesagt hatte, halb von Sinnen, hatte sie sich, auf der Straße so einsam gefühlt, hatte ein solches Bedürfnis empfunden zu sprechen, sich mitzuteilen, daß sie hierhergelaufen war, ihrer selbst nicht bewußt, nur von ihrer Leidenschaft beherrscht. Kaum eingetreten, fing sie fieberhaft zu sprechen an, ohne sich über Mathieus Anwesenheit zu wundern oder sich darum zu kümmern. "Ach, meine Liebe, ich fürchtete schon, Sie nicht zu treffen! Wissen Sie, was er mir ge sagt hat, Dir Doktor Gaude? 'Gnädige Frau, ich liefere die Kinder nicht auf Bestellung. ' Und er lachte, und war stark und schön.... Ach, der Abscheuliche!"
Bildquelle: www.abebooks.de (2008)