Maria Lazar: Viermal ich (2023)

... Sie hatte eine Zeitung in ihrem Atlas stecken - und ich riss meine Augen auf, fühlte sie erstarren in blauen Eiswasserblicken, meine Hände wurden lang, zitterten.
Ich las:
...gegen sieben Uhr abends...stürzte die Kellnerin G.E.....plötzlich unter schweren Blutungen zusammen...Spital gebracht...verbotener Eingriff ---- verweigert Aussage...gegen Mitternacht...gestorben....

-----

Natürlich konnte ich jetzt nichts von Grete sagen und von der ganzen albernen Geschichte mit Axel.
- Hast du das oft? - Beinahe jeden Tag. Und am schlimmsten wird es immer, wenn ich Fleischsuppe rieche. Dann halte ich es beinahe nicht aus.
Ulla runzelte die Stirn und sagte sachlich wie ein Buch: - Fürchtest du, dass du ein Kind bekommst?

----

Ulla war schon als kleines Mädchen fest entschlossen gewesen, Medizin zu studieren. Ihr Kinderbett roch ja nach Jodoform. Und doch gab es eine Zeit, wo sie alles, alles wollte, nur nicht das - die Zeit nach der großen Schande. ... Es war eben ein anderes Mädchen G.E., das nicht geschwiegen hatte, sondern alles auf dem Totenbett verraten. Ullas Vater kam in den Kerker. Eine Zeitung schrieb von der "unbegreiflichen moralischen Verkommenheit eines alten Arztes." ... Ulla lief im Zimmer auf und ab. Sie trug einen von den gelben Mänteln des Vaters, ein paar Blutspritzer waren darauf, vielleicht war das auch "Material" - einundvierzig Fälle, hieß es vor Gericht. ... Es war nicht schön gewesen, nein, nein. Und es war auch nicht schöne gewesen, als Ulla eines Nacht von dem Ledersofa auf musste und zu einem der Brüder ins Bett kriechen, weil eine halb verblutete Frau auf ihr Lager kam. Zwei Tage und zwei Nächte blieb diese Frau. Als sie wegging, drückte sie dem Vater weinend und dankend einen schmutzigen Geldschein in die Hand. Es war nicht viel. Und es war nicht schön, dass er es nahm.

----

Ulla ist schuld, Ulla allein ist an allem schuld. Wenn man mich vor Gericht zitiert, ich bin es einfach nicht gewesen, ich lehen die Verantwortung ab, ich weiß von nichts.
Also, Ulla sah mich an mit ihren erbarmungslosen Eiswasseraugen und sagte: - Diesmal ist es wirklich wahr. Was wirst du tun?...Übermorgen liege ich in einem Krankenhaus.

----

...Sie würde nie, niemals ihrem Primarius eingestehen, dass sie mir den Arzt dazu verschafft hat. ... Ich möchte am liebsten dabei sterben. Das alles ist so hässlich. Aber nein, das darf nicht sein. Dann käme Ulla womöglich auch noch vor Gericht. Wer weiß, ob ich schweigen könnte, wie das Mädchen G.E.

----

Während das Tok-tok des Äthers mir das Hirn zusammenpresste, stieg schlank, kühl und porzellanweiß eine Gestalt aus mir heraus. Ich aber verblasste auf dem Operationsstuhl, die Beine grausam und gemein in die Höhe gezogen.

----

Drei Tage sorgte die sanfte Schwester nun für mich. Wir sprachen nie miteinander. Um ihre Lippen lag wie Schmerz ein tröstendes Lächeln. Mir galt es nicht. Wem galt es nur? Vielleicht dem Ungeborenen, das das Leben versäumt.