Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe (1850)
Sie hielt ein Kind im Arm, ein kleines Wesen von drei Monaten, das sich blinzelnd vor dem hellen Tageslicht abwendete, denn bis jetzt kannte es ja nur das graue Zwielicht der Gefängniszelle.
Als die junge Frau - die Mutter des Kindes - so preisgebend vor der Menge stand, drückte sie in plötzlicher Erregung ihr Kind an die Brust; nicht eigentlich aus mütterlicher Liebe, sondern um ein Zeichen zu verbergen, das sie auf dem Kleid trug. Doch im nächsten Augenblick wurde ihr klar, daß sich ein Zeichen der Schande nicht durch ein anderes verdecken läßt. So nahm sie das Kind auf den Arm und blickte tief errötend, doch mit einem stolz überlegenen, abweisenden Lächeln auf ihre Mitbürger und Nachbarn. Auf ihrer Brust konnte man jetzt ein A erkennen, das aus feinem rotem Tuch geschnitten und in kunstvoller Handarbeit mit goldenem Faden auf das Kleid gestickt war; ...
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"Geschick hat sie, das muß man ihr lassen", bemerkte eine der Zuschauerinnen; "aber noch keine außer dieser schamlosen Dirne hat es fertiggebracht, es in solch empörender Weise zur Schau zu tragen. Damit macht sie sich doch nur über die frommen Richter lustig und brüstet sich noch mit ihrer Strafe."
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Ein paar aufgeregte und neugierige Schuljungen, die von allemdem nur verstanden, daß sie einen halben Tag schulfrei hatten, rannten vor ihr her und drehten sich immerzu um, starrten ihr ins Gesicht, auf das blinzelnde kleine Kind in ihren Armen und das Zeichen der Schande auf ihrer Brust.
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"Aus Mrs. Prynne ist nichts herauszubekommen, und die Richter haben vergeblich die Köpfe zusammengesteckt. Vielleicht steht der Schuldige sogar unerkannt unter der Menge, sieht dem traurigen Schauspiel zu und vergißt dabei, daß Gott ihn sieht."
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"Das wäre wohl gut, wenn er noch am Leben ist", erwiderte der Bürger. "Übrigens haben unsere Richter bedacht, daß diese Frau jung und schön ist und daß ihre Versuchung groß war; auch daß ihr Mann wahrscheinlich auf dem Grund des Meeres liegt - und sie haben das Gesetz nicht in seiner ganzen gerechten Strenge gegen sie angewendet. Eigentlich hätte sie den Tod verdient. Aber in großer Güte und Barmherzigkeit haben die Richter Mrs. Prynne nur dazu verurteilt, drei Stunden lang am Pranger zu stehen und für den Rest des Lebens das Mal der Schande auf der Brust zu tragen."
" Ein weises Urteil!" bemerkte der Fremde und nickte ernsthaft. "So ist sie eine lebendige Warnung vor der Sünde, bis das schlimme Zeichen einmal auf ihren Grabstein eingemeißelt wird.
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... da eine ganze Volksmenge wie zu einem Festakt ausgezogen war, um das rote Zeichen und das Kind der Sünde zu sehen und ihr selbst ins Gesicht zu starren, das nur am stillen Herdfeuer, in häuslicher Geborgenheit oder in der Kirche hinter dem Schleier hätte sichtbar sein dürfen. Qualvoll war es - und doch empfand Hester diese tausend Zeugen fast als einen Schutz.
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"Gestehe!" sagte eine kalte, strenge Stimme neben dem Gerüst. "Gestehe und gib deinem Kind einen Vater!"
"Ich will es nicht!" entgegnete Hester Prynne; totenblaß antwortete sie auf diese Stimme, die sie nur zu gut kannte. "Mein Kind muß seinen Vater im Himmel suchen; es soll nie einen irdischen kennen!"
"Sie will nicht sprechen!" murmelte Mr. Dimmesdale.
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Der alte Pfarrer, der die Hartnäckigkeit der armen Sünderin wohl erkannte und sich für diesen Fall sorgfältig vorbereitet hatte, hielt jetzt dem versammelten Volk eine lange Predigt über die Sünde in all ihren Erscheinungsformen und wies immer wieder auf den schmachvollen Buchstaben hin.
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Tatsächlich stand nach dem Bostoner Gesetz von 1637 der Tod auf Ehebruch nach 5. Mose 22,22: Wenn jemand gefunden wird, der bei einem Weibe schläft, die einem Ehemann hat, so sollen sie beide sterben.