Mitteilungen des Österreichischen Bundes für Mutterschutz (1911-1918)

Frauen empfinden es als ein primitives natürliches Recht, selbst entscheiden zu dürfen, ob sie ein Kind in die Welt setzen wollen, und es ist nur natürlich, daß sie sich bei kümmerlichen Verhältnissen diese Pflicht nicht aufzwingen lassen wollen. Dieses Gefühl rechtfertigt zwar keine Gewalttat, aber es erklärt, wie die Verletzung des natürlichen Selbstbestimmungsrechtes eine sonst unbescholtene Frau auf die Idee des Kindesmordes bringt. Dies ist um so erklärlicher in einem Lande, wo das Verbrechen gegen das keimende Leben strafbar ist. Denn vor allem macht sich der Drang, nur feiwillig Mutter zu werden, im Moment bemerkbar, wo die Schwangerschaft sicher ist, und wenn es den Frauen, die sich dagegen aufbäumen, Kinder in ein entsagungsvolles Dasein zu gebären und ihr eigenes Leben damit unerträglich schwer zu machen, offenstünde, eine "verpönte" Operation an sich vornehmen zu lassen, so könnten zahllose Morde an Kindern vermieden werden. 

Das Verbot der Abtreibung trifft, wie so viele Gesetze, die Aermsten am schwersten, indem es sie entweder zum Austragen der unerwünschten Frucht veranlaßt oder sie Kurpfuschern ausliefert, die ihr Leben und ihre Gesundheit in größte Gefahr versetzten, während vornehme Damen dieselbe Angelegenheit, die überdies bei ihnen nicht zu so tragischen Konsequenzen führen würde, gewöhnlich ohne Gefahr, nur mit Aufwand der nötigen Geldmittel zu regeln wissen. Eine ungemein schädlichen Rolle spielen in dieser Sache die religösen Vorurteile, die die Frauen oft dazu bewegen, das von Gott gesandte Schicksal auf sich zu nehmen, eine noch schädlichere die Rücksicht auf klerikale Wünsche, die bis jetzt eine Abänderung der bezüglichen Teile unseres Strafgesetztes verhinderte. Wäre die ungeheure ausgedehnte Kurpfuscherei auf diesem Gebiet einmal durch Ermöglichung sachkundiger Hilfe abgeschafft, könnten Frauen ihr Schicksal in der für sie wichtgsten Sache selbst bestimmen und könnte man in jedem Falle von der Mutterschaft voraussetzen, daß sie gewollt war, so würde Kindesmörderinnen eine viel größere Verantwortung treffen als jetzt und strengere Strafen würden am Platze sein. 

 

2. Jahrgang, Nr. 1, September 1912, Wien
Quelle: ÖNB, ANNO, abger. September 2025