Das erotische Lied im Kontext der Volksliedforschung
Die Tendenz der Purifizierung des Volksliedes, der Streichung von Strofen und Passagen mit sexueller Konnotation zur Hervorhebung „eines auf ästhetische und pädagogische Qualitäten ausgerichteten Bildes im Volkslied zieht sich wie eine roter Faden durch die meisten Volksliedsammlungen“ (Brednich 1973: 583). In der gut 2oo-jährigen Forschungsgeschichte zur musikalischen Volkskultur im deutschsprachigen Raum sind bis heute verhältnismäßig wenige Sammlungen ediert, die sich um eine wirklichkeitsgetreue, ungenierte Materialerfassung zum erotischen Volkslied bemühen (u.a., Blümml 1906, Krauss 1929, Brednich 1979, Zurbrügg/Auer 1990). Die frühen Volksliedaufzeichnungen seit Johann Gottfried Herder (1744–1803), der 1773 den Begriff „Volkslied“ prägte und ideologischer Wegbereiter der deutschsprachigen Volksliedforschung wurde, ignorieren diesen Bereich oder „gehen mit einigen entschuldigenden Begriffen über ihn hinweg“ (Brednich 1973: 586).
Unter dem Eindruck der Schule Sigmund Freuds wurde um 1900 in Wien durch Friedrich Salomon Krauss eine neue volkskundliche Forschungsrichtung mit Schwerpunkt auf dem erotischen Volkslied eingesetzt. Im Publikationsorgan „Anthropophyteia“ ediert Krauss, der selbst am Balkan geforscht hat, ab 1904 Forschungsergebnisse aus ganz Europa. Österreichische Volkslieddokumentation um 1900 liefern dafür gute Anhaltspunkte. Liedgattungen wie das Kiltlied, der Gasslreim und das Schnaderhüpfel sind ohne das erotische Moment nicht denkbar. Josef Pommer (1845–1918), Begründer der österreichischen Volksmusikforschung, benennt in seinem programmatischen Aufsatz „Über das älplerische Volkslied, und wie man es findet“ die sinnliche Liebe als ein zentrales Thema des älplerischen Volksgesanges und entschuldigt sich, dass in diesen Liedern geschlechtliche Verhältnisse mit einer Offenheit besungen werden, die dem urban sozialisierten Menschen „etwas stark wildle“ (Brednich 1973: 587). Im Gegensatz zum tendenziell dem „Geheimen“ anheimfallenden Umgang des Städters mit der Erotik steuere die ländliche Volkspoesie offen auf das Ziel los (Blümmel 1906: 5f.). Dabei zeigen die Texte ihren Nährboden in der Doppeldeutigkeit von Handlungen, Dingen und Abläufen, die aus dem Alltag und der Arbeitswelt des Bauern und der Handwerker entlehnt sind (Haid 1983: 219f.). Die Verdichtung der Wirklichkeit sexueller Handlungen mit den Mitteln von Musik und Poesie werden dabei spielerisch mit Witz, Humor und Komik geschildert – und reichen von sinnlicher Freude bis Melancholie und Frust. Während das „erotische Lied“ das Versteckenspielen in Doppeldeutigkeiten liebt, nennt die Zote Dinge unverhohlen beim Namen. Nach einer Periode absichtlichen Verschweigens erotischer Volksüberlieferungen im 19. Jahrhundert im Geiste der Herder’schen idealtypischen Vorstellung vom „reinen Volkslied“ folgt als Gegenreaktion zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Wiederentdeckung des „Liedes der Sinnlichkeit“ mit all seinen derbsinnlichen, schockieren- den und obszönen Facetten.