Hirschl

Sexualtherapie

Herrn Schmidts Sexualtherapeutin trägt ein rotes Latexkleid, Schuhe mit hohen Absätzen, den Namen Sylvia und ein schwarzes Werkzeugköfferchen mit unbestimmtem Inhalt. Sie hat blonde Haare, meist zu einem Zopf gebunden und lächelt viel und weit, ohne dabei zynisch zu wirken. Sie grüßt jedes Mal freundlich die Bewohner und Betreuer der WG, verschwindet dann mit Herrn Schmidt für gut eine Stunde auf sein Zimmer und stellt anschließend im Büro eine Honorarnote aus, ehe sie wieder verschwindet.

Im Grunde wusste niemand genau, was sie machte.

Keiner hatte sich je getraut, sie nach ihrer Tätigkeit zu fragen. Lediglich Chris hatte einmal auf Wikipedia Sexualtherapie nachgeschlagen. Demnach war es eine Art intime Berührungs- und Gesprächstherapie, wobei die Therapeutin in Herrn Schmidts Fall auf seine sexuellen Wünsche eingehen sollte (die dieser eher nonverbal kommunizierte). Die genauen Vorgänge in Herrn Schmidts Zimmer konnte und wollte sich aber immer noch niemand konkret vorstellen.

Vorgeschlagen hatte die Therapie vor einigen Monaten die neue Praktikantin Sophie, nachdem Herr Schmidt auch ihr wiederholt an den Arsch gefasst hatte (wie ebenfalls an den des Zivis und von so ziemlich jedem anderen in der WG (in der Hinsicht war Herr Schmidt nicht sonderlich wählerisch).

Zudem hatte er immer wieder nach einer Frau gefragt. Nach keiner bestimmten, sondern nur nach irgendeiner. Schließlich sprachen Sophie und Monika mit Herrn Schmidts behandelndem Psychiater und dieser stimmte ihnen zu und verschrieb ihm die Therapie. Solche Entscheidungen waren generell sehr schwer vorzunehmen, da man bei geistig behinderten Menschen oft kein ausdrückliches Einverständnis einholen konnte. Demnach könnte es im allerschlimmsten Fall bei einer falschen Entscheidung zu einer Anklage wegen Missbrauch kommen, sollte Herrn Schmidt die Therapie unwissentlich gegen seinen Willen aufgezwungen werden. Doch wie es den Anschein hatte, hatte Herr Schmidt nicht sonderlich viel gegen die Therapie einzuwenden. Zudem wirkte er in den Tagen nach seiner Therapiestunde immer um einiges entspannter als vorher und seine Arschgrapschfrequenz sank ebenfalls signifikant.

Die Therapien waren ohnehin das wichtigste in den Leben der Klienten. Die meisten hatten regelmäßig ihre Psychotherapiesitzungen und immer wieder auch Gespräche mit ihren Psychiatern. Das brachte eine gewisse Regelmäßigkeit in ihre Welt. Ob die Therapien selbst halfen war unklar, vielmehr war es einfach die Festlegung und Einhaltung einiger fixer Termine, die den Klienten gut tat. Ebenso wie die Groissböck-Besuche oder die Ausflüge die Sophie hin und wieder veranstaltete.

Deshalb kam Die Frau nun alle paar Wochen vorbei und verbrachte eine Stunde mit Herrn Schmidt in dessen Zimmer. Dabei traute sich keiner der Betreuer – nicht einmal Chris – jemals ihre Professionalität in Frage zu stellen. Er hütete sich regelrecht davor, irgendeine blöde Bemerkung in ihrer Anwesenheit zu machen. Zum Teil, weil er sie und ihre Arbeit respektierte, vor allem aber, weil er nicht wusste, was sich in ihrem Werkzeugköfferchen befand und Angst davor hatte, es herauszufinden. Das führte oft zu einer ganz furchtbaren Smalltalk-Situation.

„Wie gehts denn dem Herrn Schmidt so?“, fragt Chris beispielsweise.

„Sehr gut“, sagt Sylvia dann. „Aber ein bisschen müde ist er heute.“

„Gut, gut“, sagt Chris dann, und er und alle anderen im Büro nicken verständnisvoll und pressen ihre Lippen fest zusammen, um nicht zu lachen.

Auch heute stolziert die Therapeutin wieder einmal auf ihren Stöckelschuhen durch die Flure der WG in Richtung Büro und zieht dabei sämtliche Blicke der Klienten auf sich. Herr Mölzer hatte bereits einmal einen ernsthaften Panikanfall erlitten, als sie ihm im Vorbeigehen zugezwinkert hatte.

Sie führt mit Chris das übliche Smalltalk-Gespräch, stellt ihr Honorar für das Geld aus, das sie direkt bar auf die Hand bekommt und verlässt nach einer beinahe schon liebevollen Verabschiedung das Büro.

Niemand hat ihr nach der Therapiestunde mit Herrn Schmidt jemals die Hand zum Abschied gereicht und sie hat es Gott sei Dank ebenfalls nie getan. Ihr Auftritt und Abgang waren stets der Höhepunkt des Monats. Herr Mölzer stand oft auf der Straße, schaute ihr hinterher und murmelte dabei laut ihren Namen. Manchmal etwas zu laut.

Das Geld erhielt die Therapeutin direkt aus Herrn Schmidts Kassa, die zusammen mit den anderen Kassen im Kasten neben den Medikamenten eingesperrt waren. Bei manchen Klienten waren nur ein paar Euros drin, bestehend aus der geringen Beihilfe des Staates und dem Geld, das sie von ihren Verwandten ab und zu zugesteckt bekamen. Andere, wie Herr Schmidt, waren aus familiären Gründen einigermaßen reich und bekamen regelmäßig ein relativ hohes Taschengeld von ihren Sachwaltern ausbezahlt, auch wenn Herr Schmidt absolut keine Ahnung hatte, was er mit all dem Geld machen sollte, oder was Geld eigentlich genau war.

Bei anderen sah das Verhältnis zu ihrem Sachwalter nicht ganz so gut aus:

„Der Walter gibt mir nie Geld!“, beschwert sich Herr Mölzer, während er beobachtet, wie Sylvia an der Kreuzung in einen Bus steigt und davonfährt. „Der soll mir auch endlich so eine Sylvia besorgen! Ich versteh gar nicht, für was ich den überhaupt bezahl! Der regt mich auf, der Sach-Walter! Der hat die ganzen Sachen und gibt mir nix davon.“