1913: Wiener Strafprozess gegen 'Madame Mittermayer'
Mit bürgerlichem Namen hieß sie Marie Baschtarz, Tochter eines Arztes aus Wien. Mit 23 war sie bereits geschieden, hatte eine kleine Tochter und wurde 1913 zum ersten Mal wegen Mitschuld an einer Abtreibung verurteilt. Den Namen 'Madame Mittermayer' hatte sie sich von ihrem Lebensgefährten, dem Kellner August Mittermayer, geborgt.
Im Gefängnis lernte sie die verurteilte Betrügerin Marie Bernhuber, 39, kennen, Friseurin und verwitwete Mutter eines kranken Sohnes, die sich mit dem Vermieten von Schlafstellen in ihrer Eineinhalb-Zimmer-Wohnung durchbrachte. Gemeinsam fassten sie den Plan, Abtreibungen durchzuführen. Innerhalb von 15 Monaten hatten sie rund 100 Kundinnen aus dem ganzen Gebiet der Monarchie. Dazu inserierten sie in allen Tageszeitungen ein „Mittel gegen Störungen“ und nahmen Frauen zur Abtreibung auf. Das funktionierte folgendermaßen: „Nach Orientierung mit dem Mutterspiegel wurde ein gewöhnlicher Gummikatheter bis in die Gebärmutter der Betreffenden eingeführt, die zu diesem Zwecke aufgefordert wurde, sich auf den Diwan zu legen. Ich habe dann immer den Katheter durch einen Wattebausch fixiert.“ (Polizeiaussage Baschtarz)
Durch die Irritation der Gebärmutter kam es zu Krämpfen und als Folge davon zum Abgehen des Fötus. Der Erfolg und die Vollständigkeit der Abtreibung wurde von den Abtreiberinnen penibel kontrolliert.
Das Honorar orientierte sich an den materiellen Verhältnissen der betreffenden Frauen – 15 bis 200 Kronen. Zum Vergleich: Die Miete für die Wohnung, in der die Abbrüche durchgeführt wurden, betrug monatlich 60 Kronen.
Aufgeflogen waren die beiden durch einen Hinweis an die Polizei, die daraufhin ihre Korrespondenz abfing. Bei einer Hausdurchsuchung fanden sich verdächtige Instrumente, Korrespondenz und Geld. Im Gerichtsverfahren wurden Kundinnen als Zeuginnen befragt und der prominente Gerichtsmediziner Prof. Albin Haberda als Sachverständiger gehört. Er konnte Schwangerschaften und Abtreibungen nicht feststellen, denn die Abtreiberinnen hatten ihre Sache sehr gut gemacht: „...nach Monaten ist (ohne stattgehabte Verletzung) eine Feststellung unmöglich... Man kann daraus aber nicht schliessen, daß die Frauen in der kritischen Zeit nicht schwanger gewesen seien... Man kann daher nicht sagen, die Baschtarz verstehe von der Sache gar nichts! .. Keine von den Frauen ist ernsthaft erkrankt; die Vorsicht ging soweit, daß bei den auswärtigen Fällen eigene Blutstillungsmittel mitgegeben wurden...“
Marie Baschtarz wurde zu 18 Monaten, Marie Bernhuber zu 10 Monaten und der gelegentlich zur Nachcurretage zugezogene Dr. Carl Strunz zu 4 Monaten Kerker verurteilt. Die der Abtreibung überführten Kundinnen erhielten 14 Tage Kerker.
Nach: Katharina Riese, In wessen Garten wächst die Leibesfrucht?, 1983
Foto: Das Haus Mariahilferstrasse 207 (damals Wien 14), in dem 'Mme. Mittermayer' ihre Kundinnen empfing. (aufgenommen im Jahr 2007)