Die sanfte Braunalge: 100% biologisch!

Vor jedem Schwangerschaftsabbruch stellt sich die Frage, wie der fest verschlossene Muttermund so weit geöffnet/aufgedehnt werden kann, dass die ärztlichen Instrumente (Saugkanüle) in die Gebärmutter eingeführt werden können. Seit 1988 steht dafür das Medikament Mifegyne® zur Verfügung, das am Tag vor dem Eingriff eingenommen wird und den Muttermund schmerzlos und ohne Nebenwirkungen erweitert.

Früher war die Öffnung des Muttermundes hingegen eine echte Hürde, weil schwierig und sehr schmerzhaft. Deshalb wurde alles Erdenkliche versucht, wie das Einschieben von getrockneten Enzianwurzeln, Stücken von Baumrinde, Getreidehalmen, Maisstängeln, vorher gehärteten Schwämmen etc. in den Muttermundkanal. Mitte des 19. Jahrhunderts kam der schottische Arzt und Gynäkologe James Young Simpson (1811–1870) auf die Idee, getrocknete Stängel vom Fingertang (Laminaria digitata), einer Braunalge, zur langsamen Öffnung/Erweiterung des Muttermundes einzusetzen: Durch die Aufnahme von Feuchtigkeit aus dem Muttermundkanal quellen diese Algenstücke langsam auf das Vier- bis Sechsfache ihres ursprünglichen Durchmessers auf. Dadurch sollte der Muttermund sanft erweitert, werden sodass gynäkologische Instrumente, z.B. eine Saugkanüle oder Curette, eingeführt werden können.

Zwar erfolgt die Erweiterung, aber nicht gleichmäßig, sondern vorwiegend an den (weichen) Stellen des Muttermundes. Am inneren Muttermund, wo der mechanische Widerstand am größten ist, wirkt das Algenstück wenig. Davor warnte ein Arzt in den 1930ern: „Wenn man mit den Dilatatoren bei einem Abort dehnen muss bei geschlossenem innerem Muttermund, sei man sehr vorsichtig, der innere Muttermund reißt leicht ein. Wenn man mit Laminarien dehnt, nehme man lieber mehrere dünne Stifte statt eines dicken, da sonst leicht eine Abschnürung eintreten kann und man den Stift nicht mehr herausbekommt."[1] Dies ist als ‚Sand-Uhr-Phänomen‘ bekannt und kann schnell zu größeren Komplikationen führen. Weitere Nachteile von Laminaria sind, dass sie am Vortag eingeführt werden müssen und somit einen zusätzlichen Arztbesuch bedingen, und dass sie nur mit einer vorbeugenden Antibiotika-Therapie angewendet werden sollten, um Infektionen zu vermeiden.

Laminar-Stifte gibt es in verschiedenen Dicken; an einem Ende wird ein Seidenbändchen zum Herausziehen befestigt. Sie gelten als 100% biologisch, da sie keine synthetischen Materialien enthalten. Es gibt aber auch künstlich hergestellte Stifte, die sich ebenfalls bei Feuchtigkeit ausdehnen (Lamicel®).

 

Beim Strandspaziergang einsammeln

Der Fingertang wächst vor den Küsten des Nordatlantik, aber auch in der Nordsee und Ostsee, beispielsweise bei Helgoland. In Europa ist er von Island und Spitzbergen bis hinunter nach Spanien und zu den Kanaren zu finden. Er kann mehr als zwei Meter lang werden und bildet richtige Algenwälder, die stark genug sind, auch stürmischen Meereswellen zu widerstehen. Weil diese Braunalge so häufig vorkommt, konnten ÄrztInnen sie bei Strandspaziergängen selbst einsammeln. Es entwickelten sich aber auch kommerzielle Angebote (Laminaria-Industrie), vor allem in Deutschland und Schottland. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ihre Verwendung in der Medizin beispielsweise in Frankreich, Deutschland, Skandinavien und den Britischen Inseln sehr verbreitet. Unabhängig davon hatte sie sich auch in Japan durchgesetzt, wo Seetang generell für viele Zwecke genützt wird.

Wesentliche Rückschläge bremsten die medizinische Verwendung von Laminarstiften. Zum einen benutzten manche Ärzte die Stifte mehrfach, wodurch Infektionen von einer Patientin zur anderen übertragen werden konnten. Dieses Problem wurde gelöst, indem geeignete Sterilisationsmethoden entwickelt wurden. Es war auch wichtig, die Oberfläche zu polieren, damit keine rauen Stellen bleiben, die den Muttermund verletzen könnten. Seit der Einführung der ‚Abtreibungspille‘ Mifegyne® werden Laminaria nur noch in wenigen Ländern eingesetzt.

Als mechanische und technische Methoden zunehmend Einzug in die Medizin hielten, wurde die Anwendung von Laminarstiften unmodern. Es kamen metallische Instrumente in Gebrauch, die der deutsche Gynäkologe Alfred Hegar (1830–1914) entwickelt und im Jahr 1879 in die Gynäkologie eingeführt hatte: Hegar-Stifte. Auch ihre parallele Form berücksichtigt die Anatomie des Muttermundes für die Erweiterung nicht optimal, sodass auch damit ein großer mechanischer Druck angewandt werden muss.
Laminar-Stifte erlebten ab Mitte der 1970er-Jahre eine medizinische Renaissance, als durch das Urteil „Roe v. Wade“ Schwangerschaftsabbrüche in den USA freigegeben und entsprechend häufig durchgeführt wurden. Soweit heute Abbrüche in den USA möglich sind, werden immer noch häufig Laminarstifte eingesetzt, weil sie wesentlich billiger als medikamentöse Methoden zur Erweiterung des Muttermundes sind, die speziell in den USA sehr teuer sind.

 

Laminaria auch am Schwarzmarkt verbreitet

Bei den so genannten ‚Back-Street-Abortions‘, also im Geheimen durchgeführten Schwangerschaftsabbrüchen, wurden Laminarstifte sehr häufig eingesetzt, weil sie bei polizeilichen Hausdurchsuchungen unauffällig waren und nicht als Beweismittel herangezogen werden konnten. Klassische Beispiele dafür waren die Engelmacherinnen Isabel Annie Aves in Neuseeland in den 1930ern und die irische Hebamme Mary "Mamie" Cadden in Dublin in den 1950ern. In Österreich waren Laminaria für Selbstabtreibungen kaum verfügbar; einmal benützte eine Frau in ihrer Verzweiflung Malvenwurzeln aus ihrem Garten[2].

Im Jahr 2007 wurde der Fingertang von der Deutschen Botanischen Gesellschaft zur Alge des Jahres gewählt, um die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig Algen als Sauerstoffproduzenten unserer Erde sind. Aktuell werden Laminarien wegen ihrer wertvollen Inhaltsstoffe für verschiedene medizinische Anwendungen, aber auch in der Lebensmitteltechnologie, genutzt. Beispielsweise wird Fingertang in Frankreich (Bretagne) zur Produktion von Alginat genutzt, im Jahr 2005 betrug die Ernte etwa 75.000 t.

Laminaria sind auch essbar: Der Gehalt dieses Tang-Gemüses an Mineralien und Spurenelementen, insbesondere Kalium (0,116 mg pro g Trockengewicht) und Calcium (10,05 mg pro g Trockengewicht), ist höher als bei den meisten essbaren Landpflanzen. Sein Proteingehalt ist mit 8 bis 15 % der Trockenmasse hingegen relativ niedrig.

Früher wurden die angespülten oder bei Niedrigwasser geernteten Tange als Dünger verwendet. Im Mittelalter war die Veraschung der Algen (Kelp) von wirtschaftlicher Bedeutung, um daraus Alkalien für die Seifen- und Glasherstellung, aber auch für die Erzeugung von Jod zu gewinnen.

 


[1] August Heisler: Dennoch Landarzt - Erfahrungen und Betrachtungen aus der Praxis, München, 1933

[2] https://www.muvs.org/media/filer_public/15/1a/151a2b7f-786a-4add-8093-2a20c6bfeda7/schwangerschaftsabbruch-in_der_not_benutzen_die_verzweifelten_malvenwurzeln.pdf