„Das ungeheure Unrecht in der Welt“
Am Montag, 20. März 1899, wird die Wiener Bürgerstochter Maria Reinhard (geb. 1871) am Wiener Zentralfriedhof begraben. Gestorben ist sie zwei Tage zuvor – offiziell an den Komplikationen einer Blinddarmentzündung. „Diese Erklärung glaube ich nicht!“, sagte sich Dr. Rolf-Peter Lacher, Germanist und Historiker in Deutschland, und begann zu recherchieren.
Maria Reinhard war eine der unzähligen Freundinnen des österreichischen Erzählers und Dramatikers Arthur Schnitzler (1862-1931). Die Beziehung begann 1894. Die junge Gesangslehrerin sucht ihn wegen Stimmproblemen in seiner damaligen HNO-Praxis auf. „Sie ist keine jener Frauen, die man im Handumdrehen haben kann“, charakterisiert Schnitzlers Biographin Renate Wagner in ihrem Standardwerk von 1981 die junge Frau. „Von Rechts wegen ‚bekommt’ man eine Marie Reinhard nur, wenn man sie heiratet.“ Schnitzler gelingt es trotzdem, sie zu verführen; vier Jahre lang ist sie eine seiner Liebhaberinnen, wird schwanger, wartet und hofft, dass er sie heiratet.
230 Briefe von ihr an ihn liegen im Marburger Literaturarchiv; zahlreiche Eintragungen in seinen Tagebüchern erwähnen seine Beziehung zu ihr, seine Reaktionen, Gefühle, Ängste, Triebhaftigkeiten, Ausflüchte. 1897 bringt Marie Reinhard einen toten Sohn zur Welt; im Februar 1899 gibt es laut seinem Tagebuch „wieder neue Sorgen“: Marie ist also abermals schwanger und verstimmt, weil er das Heiraten „auf die lange Bank schiebe“. Am 13., 14. und 15. März sind sie noch zusammen, am 16. ist sie krank, am 17. „sehr krank“, ein Gynäkologe sowie Schnitzlers Bruder, selbst Spezialist für Blinddarmoperationen, sind bei ihr. Ins nahe gelegene Spital wird sie nicht gebracht. Am nächsten Tag ist sie tot.
„Das war keine Blinddarmentzündung“, vermutet Lacher. „Alles spricht für eine misslungene Abtreibung.“ In seinem soeben erschienenen Buch[1]zählt er auf: Maria Reinhard ist nicht ins Spital gebracht worden, wie es bei einer Blinddarmentzündung zu erwarten wäre, sondern zu Hause gestorben. Im Spital hätte man ihr ohenhin nicht mehr helfen können, aber die wahre Ursache wäre aufgedeckt worden und hätte zu einer gerichtlichen Anzeige geführt. So aber konnte der Arzt am Totenschein gnädig ‚Bauchfellentzündung’ schreiben, und die Ursache – Abtreibung - verschweigen. Der Familie wurde dadurch die ‚Schande’ erspart.
Aus Sicherheitsgründen hat die Friedhofsverwaltung den gelockerten Grabstein auf das Grab gelegt. Für eine Wiederaufstellung fehlt das Geld, denn es existieren keine Familienangehörigen mehr.
Aus Anlass von Maria Reinhards Todestag am 18. März 2014 veröffentlichen wir im Folgenden Rolf-Peter Lachers Essay.
Eine mail an das Burgtheater: Sie haben doch Schnitzlers „Professor Bernhardi“ inszeniert. Wollen Sie nicht der Maria Reinhard gedenken, die am 18. März vor einhundertfünfzehn Jahren starb? Sie ist das Urbild des Mädchens, deren Tod die Handlung des Stücks auslöst. – Antwort: Wir hätten viel zu tun, wenn wir uns um die Musen aller Autoren kümmerten, deren Werke wir aufführen. – Ich verstehe, aber wissen Sie nicht, dass Schnitzler mittelbar den Tod jener Frau verschuldete, die wie jenes Mädchen an den Folgen einer Abtreibung starb? - Was soll Schnitzler verschuldet haben? Maria Reinhard starb an den Folgen eines Blinddarmdurchbruchs.
Mich lässt die Vorstellung nicht mehr los, dass sich ein Ensemble am Grab versammelt, nicht am Grab des erfolgreichen Schriftstellers, sondern an jenem seines Opfers, eines seiner Opfer, der Frau, deren Tod er verschuldete. Ist es nicht ungerecht, dass Schnitzlers Andenken durch seine Stücke weiterlebt, während die Frau, deren Leben er zu Tode manipuliert hatte, vergessen ist? Immerhin besteht die Grabstätte noch und sie wird, so lange es den Wiener Zentralfriedhof gibt, bestehen. Für Maria, die Jüngste, hatte die Familie Reinhard dieses Grab gekauft, wenige Jahre später bestattete man ihren Bruder Karl neben ihr, ihren Vater und als letzte ihre Schwester.
Im Stück wird das sterbende Mädchen von niemandem besucht, erst recht nicht von dem Mann, den es geliebt hatte. Offenkundig wird auch das Grab der Maria Reinhard von niemandem mehr besucht. „Unsere Familie hat alles Unglück“, sagte Marias Schwester zu Schnitzler.
Am 13. März 1899 war das Denkmal für die Bürger, Handwerker und Studenten, die niedergeschossen wurden, als sie von den Habsburgern Freiheit forderten, das Ziel der Arbeiterkolonnen. Wie jedes Jahr wurden die „März-Gefallenen“ geehrt.
Als März-Gefallene verspottete Schnitzler die junge Frau in seinem Tagebuch, deren Leben er so manipulierte, dass sie die Jungfräulichkeit am 13. März 1895, an ihrem Geburtstag, verlor. Nach seinem Willen sollte sie sich ihr Leben lang als März-Gefallene empfinden, als diejenige, die ihm nicht mehr entkommen war. Maria Reinhard hatte einerseits versucht, aus der Enge der Familie auszubrechen, indem sie selbst den Mann wählte, mit dem sie eine Familie gründen wollte. Eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, die der Ehre und dem Ansehen der Familie Reinhard entsprach, das war ihr Ziel.
Im Dezember 1896 war Maria Reinhard zum ersten Mal von Schnitzler schwanger geworden. Er werde sie heiraten, irgendwann, nicht jetzt gleich. Ihre Eltern ließen sich notgedrungen beruhigen, ihre Schwester setzte Schnitzler energisch zu: warum er Maria nicht jetzt heirate, warum er sie nicht wenigstens geheim heirate? Alles vergeblich. Kaum eine Frau hat die Schwangerschaft unter so demütigenden Umständen erlebt wie Maria Reinhard. Damit er in seinen Entscheidungen frei war, sollte Maria Wien fernbleiben. Das Kind sollte sie zu Kosteltern geben und das bedeutete nichts anderes, als den frühen Tod des Kindes hinzunehmen. Schnitzler mutete ihr zu, in einem verwahrlosten Haus in Mauer zu gebären, die Wehen zogen sich über fünf Tage hin. Dann war das Kind endlich tot, Maria überlebte mit knapper Not. Schnitzler hatte nur die Bestattungskosten zu übernehmen und versuchte obendrein, das Honorar der Hebamme zu drücken.
Schnitzler beklagt sich im Tagebuch darüber, sein Leben sei von Angst begleitet. Dagegen gab es ein einfaches Mittel: entweder er heiratete, dann war eine Schwangerschaft kein Unglück mehr, oder er verzichtete auf Geschlechtsverkehr. Nun ja, das war sicher keine Alternative, zumal Schnitzler erleben wollte, worüber er schrieb. Früher war Schnitzler hin und wieder auch zu einer Dirne gegangen, dann war ein Mann die Angst vor einer Schwangerschaft los, konnte aber eine Ansteckung nicht ausschließen. Es war sicherer und gesünder, man hielt die Hoffnung einer Dauergeliebten wach, irgendwann doch geheiratet zu werden. Im Februar 1899 trägt Schnitzler ein: Neue Sorgen. Maria war wieder schwanger. Was hatte er anderes erwartet? Ein Kind, wird er zu Maria Reinhard gesagt haben, das passe ihm jetzt gar nicht. Zum Heiraten habe er jetzt gerade keine Zeit, denn am Burgtheater sollen seine drei Einakter uraufgeführt werden: „Paracelsus“, die „Gefährtin“ und der „Grüne Kakadu“.
Paracelsus ist Schnitzler. Paracelsus-Schnitzler versteht die Frau. Seine Liebe lässt die Frau aus dem Dunkel der Seele ins Licht treten. Er lässt sie in der Hypnose ihr eigentliches Leben träumen. Er lässt sie in der Wirklichkeit verfremdet zurück.
Im zweiten Stück, das am 1. März 1899 uraufgeführt wird, kommt Robert vom Begräbnis zurück. Seine Frau war einen unvorhersehbaren Tod gestorben. Er muss sich eingestehen, dass sie beide sich fremd geworden war. Er hatte hingenommen, dass sie einen Geliebten hatte. Nun erfährt er, dass dieser Geliebte seinerseits verlobt war. Damit habe jener junge Mann seine Geliebte zur Dirne gemacht. Doch nun erfährt Robert die volle Wahrheit: seine Frau habe von der Verlobung gewusst in dem Bewusstsein, dass Liebe endlich ist. Ihr sei das Leben leicht gewesen, sie habe Robert immer auch geliebt. So gestaltet sich Schnitzler sein Bild: die eigentliche Frau, also die Frau, der das Leben leicht ist, weiß um die Endlichkeit der Liebe.
Im „Grünen Kakadu“ besteht die Liebe der Frau darin, dass sie von ihren Abenteuern und
Liebschaften immer wieder zu dem einen Mann zurückkehrt, der dem Gespött preisgegeben wird. Denn er hängt der Illusion an, er könne die triebhafte Natur der Frau durch die Heiligkeit der Ehe überwinden.
Das Bild, das sich Schnitzler von der Frau macht, befreit ihn von Verantwortung gegenüber der Frau. Er bekennt es auch im Tagebuch: Er hasst seine Geliebten. Der Hass gibt ihm die Freiheit, die Liebe der Frauen zum Material zu machen, aus dem seine Stücke werden.
Zitate aus: Arthur Schnitzlers Werken ‚Frau Berta Garlan’ (1900), ‚Professor Bernhardi’ (1912)sowie ‚Therese. Chronik eines Frauenlebens’ (1928).
[1]Rolf-Peter Lacher: Der Mensch ist eine Bestie – Anna Heeger, Maria Chlum, Maria Reinhard und Arthur Schnitzler, Würzburg, 2014, ISBN 978-3826053962