Bänkelsängermoritaten: Verstoßen oder Der Tod auf den Schienen (ca. 1840)

Ihr Jungfrauen, hört die Schreckenskunde,
die sich zutrug in unserer Stadt,
verpflanzet sie von Mund zu Munde,
was falsche Lieb für Folgen hat.

Es war ein Mädchen, jung an Jahren,
Verführt durch Männerschmeichelei.
Sie mußte schon so früh erfahren,
Daß sie bald eine Mutter sei.

Die Eltern hatten´s auch erfahren,
Das Mieder ward ihr schon zu klein.
Der Vater riß sie bei den Haaren,
Sie sollt’ und mußt’ verstoßen sein.

Vom Elternhause ganz verstoßen,
Ging sie am Sonntag weit hinaus.
Sie hatt’ in ihrem Herz beschlossen,
Nie heimzukehr´n ins Elternhaus.

Sie ging von Sulza nach Bad Kösen,
Und bei Schulpforta an der Bahn,
Tat sie ihr Haupt auf Schienen legen,
Bis daß der Zug von Naumburg kam.

Die Schaffner hatten´s wohl gesehen,
Und bremsten mit gewalt´ger Hand.
Jedoch der Zug, er blieb nicht stehen,
Ihr junges Blut floß in den Sand.

Dem Zug entstiegen drei Studenten,
Der eine bleich von Angesicht.
Und als er da die Leich’ erblickte,
Da sprach er: „Nein, das wollt’ ich nicht!“

Die Schüler aus Schulpforta kamen
Und nahmen sich der Leiche an.
Sie taten sie so schön begraben,
Weil sie´s aus Liebe hat getan.



Die flächendeckende, bis nach Polen reichende Verbreitung dieser Moritat zeigt sich in den diversen Ortsangaben und unterschiedlichen Textfassungen.

Vielerorts beinhaltet die Ballade noch eine Strophe, die die medizinisch-anatomische Examinierung einer solchen Selbstmörderin wiedergibt:

Vom Doktor ward sie nun besehen,
Man einen Knaben bei ihr fand.
Jedoch der Knab' war nicht vollendet,
Dem Knaben fehlt' die rechte Hand.

aus: 'Der verwaltete Körper' von Marita Metz-Becker, (1997)



Bildquelle: www.amazon.de (2008)