Ferdinand Bruckner: Die Verbrecher (1928)

Olga (an der Schreibmaschine)
Ernestine: Sie klappern noch das Kind kaputt.
Olga: Keine Angst.
Ernestine: Hier habe ich einen Liter Milch. Große Schmerzen?
Olga: Wen ich nur nicht so müd’ wäre.
Ernestine: Schließlich kommt noch ein Krüppel heraus.
Olga: Solle wir verhungern?
Ernestine: Sie haben es auch nötig gehabt, sich einen Doktor zu nehmen, der keinen Pfennig verdienen kann.
Olga: Ich muß arbeiten.
Ernestine: Sie machen uns taub, mich und das Kind. Ich futtere Sie durch bis zur Geburt des Kindes.
Olga: Und die Miete? Und das viele andere?
Ernestine: Ich futtere auch Ihren Doktor durch. Heute abend gibt’s Hasenpfeffer.
Olga: Wir können nicht auf die Dauer vom Bettel leben. Ich komme schon durch.
Ernestine: Ich will keinen Krüppel haben.
Olga: Dann behalte ich es eben.
Ernestine: Närrisches Mädel
Olga: Sie tun mir ja weh, Frau Puschek.
Ernestine: Hören Sie zu klappern auf.
Olga: Ich muß heute noch zwölf Seiten schreiben.
Ernestine: Sie klopfen Sargnägel für mein Kind. Aufhören.
Olga: Sie sind verrückt.
Ernestine: In einem Monat ist’s auf der Welt. Dann schreiben Sie, soviel Sie wollen. Nur gesund muß ich’s kriegen. Und daß keiner was davon erfährt. Lassen Sie mich das Herzchen hören. Ich hör’s, ich hör’s. Du mein kleines, mein süßes Ferkelchen, wirst es bei mir gut haben, ich schwör’ dir’s in den Bauch der Mutter hinein. Ich bin ja kein Mensch, wissen Sie.
Olga: Warum wollen Sie unbedingt das Kind?
Ernestine: Ich bin ja kein Weib, daß ich’s nicht selbst schaffen kann. Und so eine wie Sie kriegt es und hätte es sich beinah herausnehmen lassen.
Olga: Wenn man nichts zu essen hat.
Ernestine: Danken Sie Gott, daß ich rechtzeitig dazwischen kam.
Olga: Es ist ein Jammer.
Ernestine: Es bleibt abgemacht.
Olga: Ich komme gar nicht dazu, es zu lieben, weil ich es nicht haben kann. Dabei liebe ich es.
Ernestine: Es bleibt abgemacht. Und kein Mensch erfährt was.
Olga: Ich möchte ins Wasser gehn.
Ernestine: Erst krieg’ ich das Kind.

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Olga: Es ist doch eine Kindesunterschiebung.
Kummerer: Mach’ dir keine Sorgen.
Olga: Wir sind ausgeliefert und kommen ins Gefängnis.
Kummerer: Sie wird sich hüten. Und lieber noch als die Abtreibung. Solang unsere Liebe hält, wird uns die Not nicht unterkriegen. Daß du nur an der Geburt nicht leidest.
Olga: Im Innersten möchte ich es behalten.
Kummerer: Rühren wir nicht mehr daran.
Olga: Laß es mich behalten.
Kummerer: Glaubst du, daß ich es nicht auch immer wieder denke?
Olga: Laß es mich behalten.
Kummerer: Wo wir selbst buchstäblich hungern?
Olga: Aber wir leben trotzdem.
Kummerer: Von der Tafel fremder Leute. Wenn dir die Puschek nicht die Milch heraufbringen würde, bei deiner schwachen Lunge. Es ist die beste Lösung. Als ob sie Gott geschickt hätte. Bei dieser Frau wird es unser Kind gut haben.
Olga: Ja.
Kummerer: Besser als bei uns.
Olga: Wenn Sie es zumindest adoptiert.
Kummerer: Sie hat ihre Gründe.
Olga: So wird es ja ein Verbrechen.
Kummerer: Es gibt keinen anderen Ausweg. Arbeiten wir weiter. Für den Artikel über die Willensfreiheit bei Kant und Leibniz bekomme ich sicherlich zehn Mark.
Olga: Morgen früh hole ich mir das Geld für die Abschriften. Vierzehn Mark.
Kummerer: Vor allem brauchst du ein Paar Schuhe.
Olga: Ich bringe das Geld sofort dem Hausverwalter. Sonst sitzen wir auf der Straße.
Ernestine (dringt ein): Eines wollte ich Ihnen sagen: Ihren Bankert können Sie sich behalten.
Kummerer: Frau Puschek.

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Der Vorsitzende: Der Tatbestand liegt klar vor Augen. Die Angeklagte Olga Nagerle hat in der infamsten Weise einen Selbstmord fingiert, um sich des Kindes zu entledigen. Wo befanden Sie sich, als die Angeklagte das Kind ertränkte?
Kummerer: Sie hat es nicht ertränkt.
Der Vorsitzende: Antworten Sie auf meine Frage.
Kummerer: Sie hat sich mit dem Kind das Leben nehmen wollen. Sie ist mit dem Kinde zusammen ins Wasser gesprungen.
Der Vorsitzende: Aber sie fand sofort wieder heraus, während sie das Kind drin ließ. Diesem interessanten Selbstmordversuch hat der Wächter als Zeuge beigewohnt. Er hat sie aus dem Teich schwimmen sehn. Bevor er überhaupt zu Hilfe kommen konnte, war sie schon auf sicherem Ufer.
Kummerer: Was in einem solchen Augenblick in einem Menschen vorgeht, kann niemand ergründen.
Der Vorsitzende: Sie meinen den Augenblick, da sie sich den Selbstmord überlegte?
Kummerer: Diese stumpfsinnige Angst vor dem Tode, diese unerklärliche, automatische Lebenszwangsreaktion –
Der Vorsitzende: Halten Sie hier keine Vorträge.
Kummerer: Die ganze Jämmerlichkeit des Lebens drückt sich darin aus.
Der Vorsitzende: Vor allem drückt sie sich in der Verantwortungslosigkeit aus, mit der Kinder erzeugt werden.
Kummerer: Wir haben kein Kind erzeugt.
Der Vorsitzende: Sie, als der Schwängerer, sollten es nicht in Abrede stellen wollen.
Kummerer: Her Vorsitzender –. Zum Kinderzeugen gehört der Wille, ein Kind zu haben.
Der Vorsitzende: Nach bisherigen Ermittlungen hatte sich das Mädchen vor Ihnen noch von keinem Manne benutzen lassen.
Kummerer: Herr Vorsitzender!
Der Vorsitzende: Zur Not läßt sich hieraus ein Milderungsgrund konstruieren. Der letzten Endes Schuldige sind Sie, der Sie das Mädchen der Schande in die Arme getrieben haben und schließlich dem Mord.
Kummerer: Zwischen und stehen Welten.
Der Vorsitzende: Lassen Sie diese läppische Symbolik. Warum haben Sie die Angeklagte nicht geheiratet?
Kummerer: Wir waren zu arm.
Der Vorsitzende: Um so mehr hätten Sie achtgeben sollen, nicht noch ein drittes Hungermaul in die Welt zu setzen. Mit welcher Ruchlosigkeit gewisse intellektuelle Kreise, sogenannte Studierende und Emanzipierte, heutzutag vorgehn, beweist die Selbstverständlichkeit, mit der die Angeklagte vorhin von der in Erwägung gezogenen Fruchtabtreibung sprach.
Olga: Verurteilen Sie mich endlich.
Der Vorsitzende: Ihr Bedürfnis nach Sühne ist durchaus natürlich.
Olga: Ich halte das nicht länger aus.
Kummerer: Herr Vorsitzender –
Der Vorsitzende: Wollen Sie mich gefälligst nicht unterbrechen.
Kummerer: Sie lassen einen ja nicht zu Worte kommen.
Der Vorsitzende: Wir sind nicht dazu da, Ihre alberne Lebensphilosophie entgegenzunehmen.
Verteidiger: Darf ich mir zu bemerken erlauben, daß die Angeklagte durchaus nicht in allen Punkten mit den mehr als überflüssigen Ausführungen des Zeugen übereinstimmt.
Olga: Wir sind ja geliefert mit Haut und Haar.
Der Vorsitzende: Meint die Angeklagte damit da Gericht? Oder meint sie am Ende gar ihren eigenen Verteidiger, der mit anerkennenswertem Eifer bemüht ist, durch den Nachweis von Reue und Scham ein mildes Urteil zu erwirken?
Kummerer: Geben wir es auf. Lassen wir ihn allein sprechen.
Olga: ich denke nur mehr an dich.
Der Vorsitzende: Sagten Sie etwas? Wo befanden Sie sich also im Augenblick der Tat?
Kummerer: Auf der Universität.
Der Vorsitzende: Welche Wirkung hatte die erste Nachricht auf Sie?
Kummerer: Ich wollte mir das Leben nehmen.
Der Vorsitzende: Ich denke, die Angeklagte?
Kummerer: Sie wollte sich das Leben nehmen.
Der Vorsitzende: Jetzt sind es plötzlich beide.
Kummerer: Wir wollten uns das Leben nehmen.
Der Vorsitzende: Hätten Sie es doch getan – könnte man fast sagen. Von den Mordabsichten der Angeklagten war Ihnen nichts bekannt?
Kummerer: Nehmen Sie zur Antwort, was Ihnen lieber ist.
Der Vorsitzende: Ich schließe mich nunmehr dem Antrag des Herrn Staatsanwaltes an, Ihre Beeidigung bis zur Vornahme von Ermittlungen über Ihre etwaige Mittäterschaft auszusetzen. – Die Angeklagte hat gestanden, daß sie rechtzeitig eine Abtreibung vorgenommen hätte, hätte sie nicht begründete Aussicht auf Abschiebung des Kindes sofort nach seiner Geburt gehabt. Wußten Sie von dieser vorgesehenen Fruchtabtreibung?
Olga: Ich habe nie Abschiebung gesagt.
Der Vorsitzende: Das Gericht lehnt es ab, sich Ihre Terminologie oder die Ihres Schwängerers zu eigen zu machen. Wir sprechen hier deutsche Fraktur.
Olga: Das Kind wollte eine Frau nehmen, zu der ich mehr Vertrauen hatte als zu mir selbst.
Der Vorsitzende: Wie zu erwarten, überlegte es sich diese gute Fee, einen fremden Balg ins Nest zu setzen, sobald der entscheidende Augenblick gekommen war. Und auf diese leichtfertige Zusage hin, die die angebliche Frau gemacht und, wenn sie sei gemacht, nie ernst gemeint hat – schenken Sie einem neuen Erdenbürger das Leben.
Kummerer: Es handelt sich hier um ein scheinbares und äußeres Motiv. In Wirklichkeit wollten wir das Kind behalten.
Der Vorsitzende: Was verstehn Sie unter „behalten“?
Kummerer: Eine Frau kann nicht neun Monate tragen, wenn nicht uneingestandene, hilflose Liebe zu dem Kind sie erfüllt.
Der Vorsitzende: Sie hat es dann auch ermordet – aus uneingestandener und hilfloser Liebe?
Olga: Ja.
Der Vorsitzende: Sie geben also zu, daß Sie es ermordet haben?
Olga: Ich gebe zu, daß ich es geliebt habe.
Der Vorsitzende: Ich fragte aber vorhin, ob Sie es ermordet haben?
Olga: Das kommt auf das gleiche heraus.
Der Vorsitzende: Wie war das? Es ist das gleiche, daß Sie es geliebt und daß Sie es ermordet haben?
Olga: Ja.
Der Vorsitzende: Zumindest geben Sie damit endgültig die Komödie mit dem Selbstmord auf. Sie sind mit dem Kind ins Wasser gegangen, nicht um mit dem Kind Selbstmord zu begehn, sondern um das Kind zu töten.
Olga: Ja.
Kummerer: Wenn wir das Kind von Anfang an töten wollten, hätten wir nicht alles versucht, uns mit dem Kind durchzuschlagen, und wir hätten es nicht drei Wochen alt werden lassen.
Der Vorsitzende: Das erhöht nur die Strafbarkeit.
Olga: Laß ihn allein sprechen.
Der Vorsitzende: Sagten Sie was?
Olga: Es ist alles umsonst.
Der Vorsitzende: Während der sofort verübte Kindesmord in dem durch Schmerzen, Blutverlust, Todesangst geschwächten Zustand einer Gebärenden allenfalls einen Milderungsgrund findet, gibt es für die Ermordung eines dreiwöchigen Kindes keinen Unterschied mehr ob Kind oder Erwachsener. Mord bleibt Mord. Die ruchloseste Tat, die von lebensunfähigen, lebensunwerten Menschen verübt wird, um sich leichtfertig von einer Last zu befreien, die ihnen das Schicksal auferlegt hat als Sühne für die Stunden der Wollust. – Hat der Zeuge noch etwas auszusagen?
Olga: Nein.
Der Vorsitzende: Ich verbitte mir Ihre fortgesetzten Einwürfe, die nur den Zweck haben, den ordentlichen Gang der Verhandlung zu behindern. Ich frage den Zeugen –

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Carla: Ich kann nicht lang wegbleiben. Wir haben Gäste.
Ben Sim: Meinetwegen geh gleich wieder hinauf.
Carla: Sei nicht gemein. Wo ist die Frau?
Ben Sim: Sie muß gleich kommen. Was Neues?
Carla: Nichts.
Ben Sim: Also dann los. Seit einem Monat sag’ ich’s.
Carla: Du hast ja auch nichts dabei auszustehn.
Ben Sim: Fang’ nur wieder zu heulen an.
Carla: Es ist ja doch eine Operation.
Ben Sim: Ein Eingriff ist’s und keine Operation.
Carla: Und ein Verbrechen. Behalten willst es nicht?
Ben Sim: Du bist verrückt.
Carla: ich würde es nämlich behalten.
Ben Sim: Ein Ballast, der sich einem für immer um den Halst hängt.
Carla: Ich würde noch mehr arbeiten.
Ben Sim: Geheiratet wird nicht.
Carla: Wenn du nur lieb zu mir bist.
Ben Sim: Verrückt. Ich gehe doch nicht mit einer, die ein uneheliches Kind hat.
Carla: Aber es ist doch von dir.
Ben Sim: Eine Schande bleibt’s trotzdem.
Carla: Besser eine Schande, als ein Verbrechen.
Ben Sim: Was verstehst denn du davon? Ein Verbrechen ist gar nichts, solang es keiner weiß. Aber eine Schande – das klebt.
Carla: Und wenn es doch herauskommt?
Ben Sim: Sitzt man ein paar Wochen, und es ist nichts gewesen. Im Gegenteil.
Carla: Im Gegenteil?
Ben Sim: So etwas ist heute geradezu schick.
Carla: O Gott im Himmel.
Ben Sim: Was hast du denn überhaupt bestellt?
Carla: Nichts.
Ben Sim: Kellner, einen Sliwowitz.
Carla: Und das Geld?
Ben Sim: Frag’ nicht so blöd.
Carla: Meine ganzen Ersparnisse habe ich dir gegeben.
Ben Sim: Was das schon war. – Oder liegt ja so viel Silber herum?
Carla: Ben.
Ben Sim: Not kennt kein Gebot.
Carla: Erst geb’ ich das Kind weg – nachher soll ich noch stehlen? Was du aus mit machst.
Ben Sim: Erstens mache ich nichts aus dir, und zweitens kümmert es mich schief, wie du damit fertig wirst. Du hast mich um eine diskrete Frau gebeten, ich habe sie gesucht, ich habe sie gefunden, ich habe sie herbestellt. Jetzt soll ich gleich alles machen? Zum Schluß soll sie es noch gar mir aus dem Bauch herausschneiden.
Carla: Willst du, daß ich auf den Strich gehe?
Ben Sim: Diese Weibersachen gehen mich einen Dreck an. Prost!

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Carla: Wenn was passiert?
Die Frau: Aber nicht bei mir. Zweihundert Mark.
Carla: Wenn ich zweihundert Mark hätte, würde ich das Kind behalten.
Die Frau: Behalten Sie es doch.
Ben Sim: Irgendwie wird sie es schon beschaffen. Keine Aufregung.
Carla: Ich bekomme morgen fünfzig Mark.
Ben Sim: Nur nicht nachgeben bei den Weibern.
Die Frau: Den Rest zahlen Sie monatlich vom Lohn ab.
Ben Sim: Keller, drei Sliwowitz.