Heinrich Pestalozzi: Über Gesetzgebung und Kindermord (1783)
Vergebens fließt das Blut deiner Kindermörderinnen, Europa! Laß deine Herrscher aufheben die Ursache ihrer Verzweiflung, so wirst du ihre Kinder erretten. Dein Schwert tötete viele bei meinem Gedenken, aber nur die Geschichte der ersten Ermordeten, von der ich reden hörte, will ich erzählen:
Sie blühte wie die reinste Rose des Gartens. Kaum war ihre Knospe entfaltet, als ein Verderber sie abriß von ihrem Stock, roch ihren Wohlgeruch, und sie dann hinwarf in den Kot, zertrat mit seinen Füßen unddann forteilte vom Garten, wo die Rose aufwuchs, sich enthüllte und einen Morgen bloß ihren Wohlgeruch duftete.
Er war hin, der Verderber, Meere und Königreiche trennten jetzt den Verbrecher von der Verführten, von der edlen und reinen Verführten; denn bei Gott im Himmel: das war sie, ehe der Verführer der lachenden heiteren wonnevollen Unschuld Schlingen legte und Fallstricke, ehe sie von ihm hörte das Lob ihres Herzens, ehe er ihr schwor, daß sie im größten Reiche die Erste der Angebeteten sein werde, ehe sie ihn sah auswerfen das Geld an Elende und Bettler, ehe sie seinem Herzen traute, ehe sie hinsank von Dankempfindung in seine Arme, da er ihren Vater mit einer Wohltat erquickt hatte. Bei Gott im Himmel, sie war edel und rein, bis er sie mit allem diesem verführt und dann am Abend des Gastmahls geschwächt hat, am schrecklichen Abend, wo der Wagen zur Abreise schon aufgepackt war, der dann am frühen Morgen den Verführer dem Auge der klagenden Unschuld entriß! Gott! du weißt, sie war geschaffen zu den reinsten Mutterfreuden, zu hängen am Kind ihres Herzens mit der Wonne und Liebe, mit der sie hing an dem Verbrecher, den sie edel und gut glaubte.
Aber der Verführer hat ihr den Abgrund der Greuel der Menschheit eröffnetund die Unerfahrene hingestürzt in Tiefen und Elend und Sorgen, daß ihre ganzen Monate durch ihr Herz zitterte, bebte und klopfte, stärker bebte, zitterte und klopfte, als es zitterte, bebte und klopfte am Tage ihrer Enthauptung. Ihre ganzen Monate durch verfolgte die Elende das Bild des Verführers, an dem ihr Herz gehangen und dem sie jetzt fluchte in ihrem greulichen Jammer.
Der Menschheit Stützen sinken dahin beim Mädchen, welches dem Jüngling, an dem sein Herz gehangen, jetzt fluchen muß. Bei ihm stirbt jede Hoffnung,und jeder Gedanke an die Freuden der Mutter ist ihm erschütterndes Elend. Wie eine Giftbeule, die Tod und Verderben droht, wächst in ihr das Kind des Verbrechers. Sie trägt's und fühlt keine Mutterempfindung, sie fühlt nicht, daß das Kind ihres Herzens dennoch Gottes heilige Gabe und auch ihr Kind ist. Sie fühlt nur den Greuel des Vaters und der Ängstigungen Menge und der Erwartungen Schrecknisse.
So gingen der Elenden ihre Monate vorüber; sie schmachtete nach Hilfe undRat, aber Verzweiflung im Herzen nahm ihr in jedem Augenblicke Kraft zum Entschluß und zernichtete jeden Vorsatz zur Rettung. Scham und Angst undinneres Beben des Herzens hemmten den Mund. Sie durfte nicht reden, vor ihren Gespielen, vor ihrer frommen Mutter durfte sie's nie wagen, hierüber den Mund zu öffnen. Zehnmal versuchte sie es und wollte es wagen, der liebsten Gespielin ihren Jammer zu klagen. Aber allemal erstarrte auf ihrer Zunge das Wort, sie konnte nicht reden. Tränen flossen von ihren starren Augen und rollten über ihre blassen kalten Wangen, dann entfloh sie ihren Gespielen. Sie entfloh dem Antlitz der innig geliebten Mutter und dem Auge des gefürchteten Priesters, trug's mit sich selber, wollt's immer noch sagen, schob's immer doch auf.
Und plötzlich war sie da, die Stunde des Schmerzes der Mutter und die Stunde der letzten Verzweiflung. Die stählte den Arm der Mutter, zu würgen das Kind und zu stampfen mit ihrem Fuß gegen sein Herz. Ihr war's, das zeugte sie bei Gott in der Stunde des Todes, ihr war's, als sie würgte undstampfte, sie würgte mit der Hand den Verbrecher und stampfte mit dem Fuß gegen sein Herz. Jetzt war's geschehen, das Kind ihres Herzens war tot. Sie sah's und sank mit Todesgeschrei und der ersten Mutter- undMörderempfindung in Ohnmacht!
Als sie wieder erwachte, nannte sie schauernd und bebend den Namen des Verbrechers, bat um den Tod und schmachtete nach der Erlösung aus ihrem Leiden und nach der Umarmung des getöteten, des erretteten, des ermordeten Kindes.
Das ist die Geschichte von der ersten Kindermörderin, von der ich reden hörte. Die Hand des Henkers schlug ihr das Haupt ab. Wie bang! wie bang! wie bang war's allen, die umherstanden, als sie fiel, die Enthauptete, von ihrem Stuhl. Wessen Herz schlug Unschuld und wessen Inneres zeugte dem Frömmsten und Besten: ich bin reiner als diese?
Sie war's nicht allein, in meinem Leben sah ich mehrere diese Strafe leiden. Zwar schien mir keine so rein, so edel, so in ihrer Unschuld geschlachtet wie diese. Alle, alle, von denen ich hörte, waren hingerissen zur Tat von Bildern grausamer Schrecknisse und marternder Beängstigungen.