John Irving: Gottes Werk und Teufels Beitrag (1985)

Muß ja reines Gift sein, bemerkte Mrs. Eames’ robuste Tochter zu Wilbur Larch, der ein wenig von seinem geliebten Äther auf das fleckige Etikett der Flasche träufelte und es hinlänglich säuberte, um lesen zu können.

FRANZÖSISCHE LUNARTINKTUR
Normalisiert den monatlichen Zyklus der Frau!
Beseitigt Suppression!
(Suppression, das wußte der junge Larch, war ein klinischer Euphemismus für Schwangerschaft.)
Vorsicht: Gefährlich für verheiratete Frauen!
Führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Fehlgeburten!


So verkündete das Etikett am Schluß; was natürlich der Grund war, warum Mrs. Eames sie genommen und immer wieder genommen hatte.
Den Mißbrauch von Abortiva hatte Larch an der Medical School studiert. Manche - wie Ergotin, das Larch gab, um die Kontraktion der Gebärmutter nach der Entbindung zu fördern, und Hypophysenextrakt - wirkten direkt auf den Uterus ein. Andere zerstörten den Darm - sie waren einfach drastische Abführmittel. Zwei Leichen, an denen Larch an der Medical School gearbeitet hatte, waren Opfer eines damals ziemlich gebräuchlichen Abtreibungshausmittels: Terpentin. Leute, die in den 1880er und 1890er Jahren keine Babys wollten, brachten sich auch mit Strychnin und mit dem Öl der Gartenraute ums Leben. Die französische Lunartinktur, mit der Mrs. Eames es probiert hatte, war Farn-Öl; sie hatte es so lange und in solchen Mengen genommen, daß ihr Darm die Fähigkeit verloren hatte, Vitamin C zu absorbieren. Auf diese Weise verwandelte sie sich in Münsterkäse. Sie starb, wie der Pathologe richtig beobachtet hatte, an Skorbut.

Mrs. Eames hätte für den Versuch, ein weiteres Kind abzutreiben, verschiedene andere Mittel wählen können. Gerüchten zufolge war ein ziemlich berüchtigter Abtreiber im South End auch der erfolgreichste Zuhälter des Bezirks. Er berechnete nahezu fünfhundert Dollar für eine Abtreibung, was sehr wenige der armen Frauen sich leisten konnten; wegen ihrer Schulden wurden sie seine Huren.
...
Wilbur Larch brauchte Mrs.Eames’ Tochter nicht besonders gründlich zu untersuchen, um zu entdecken, daß die versuchte Abtreibung fehlgeschlagen war. Ein Fötus ohne Herzschlag war eingeschlossen in ihren Uterus, der sich in einem Krampfzustand befand. Die Blutung und Infektion konnte durch jede der verschiedenen Methoden bedingt sein, die ‚abseits von Harrison’ eingesetzt wurden.

Es gab die Anhänger der Wasser-Kur, die den Gebrauch eines intrauterinen Schlauches mit Spritze befürworteten, aber weder der Schlauch noch das Wasser waren steril und die Spritze diente noch manch anderem Zweck. Es gab ein primitives Absaugsystem, einfach ein luftdichter Napf, aus dem
mittels fußbetriebener Pumpe die Luft abgesaugt werden konnte; es hatte die Kraft, eine Abtreibung
einzuleiten, ...

Und - wie das kleine Schild an der Tür von ‚Off Harrison’ besagte: WIR BEHANDELN MENSTRUELLE SUPPRESSION ELEKTRISCH! - es gab die galvanische Batterie nach McIntosh. Lange Kabel waren an die Batterie angeschlossen; an den Kabeln waren intrauterine Sonden befestigt, mit isolierten, gummigeschützten Handgriffen; auf diese Weise spürte der Abtreiber den Schock nicht in seinen Händen.
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Sie war wütend auf mich, weil ich ihr eine Abtreibung verweigert habe, antwortete Wilbur Larch.
Sehr gut für Sie, sagte der Assistent.
Aber Larch sah nicht ein, wieso dies für irgend jemanden gut sein sollte. Hier lag eine weit fortgeschrittene Entzündung der Bindegewebe und inneren Organe der Bauchhöhle vor, der Uterus war zweimal perforiert, und der Fötus, der tot war, entsprach der Voraussage von Mrs. Eames’ Tochter: er war nicht quick gewesen.
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Er marschierte in den Operationssaal und hob irgend etwas auf, nur um seine Autorität zu demonstrieren. Was er aufhob, war der Saugnapf mit einem kurzen Schlauch, der zur Fußpumpe führte. Der Napf passte sauber in seine hohle Hand; er konnte sich unschwer vorstellen, wohin er sonst noch passte. Zu seiner Überraschung begann Mrs. Santa Claus, als er den Napf an seine Hand anlegte, die Fußpumpe zu treten. Als er das Blut gegen seine Poren brausen fühlte, riß er sich schnell den Napf von der Handfläche, bevor das Ding mehr anrichten konnte als eine Blutblase an seinem Handballen.
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„Sie wissen nicht, was Sie tun“, sagte Dr. Larch zu Mrs. Santa Claus.
„Wenigstens tue ich etwas“, sagte die alte Frau mit feindseliger Ruhe. „Wenn Sie schon wissen, wie man es macht, warum tun Sie es nicht?“, fragte Mrs. Santa Claus. “Wenn Sie es wissen, warum bringen Sie es mir nicht bei?“
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„Dieselben Leute, die uns erzählen, wir müßten für das Leben der Ungeborenen eintreten – die selben, die sich nicht bemüßigt fühlen, für etwas anderes einzutreten als für sich selbst, nachdem das Mißgeschick der Geburt komplett ist! - also genau die, die ihre Liebe zur Seele der Ungeborenen
bekunden, scheren sich keinen Deut um die Wohlfahrt der Armen, scheren sich keinen Deut um die Unerwünschten und die Unterdrückten. Und wie rechtfertigen sie, daß sie sich so sehr um den Fötus und so wenig um unerwünschte oder mißhandelte Kinder sorgen? Sie verdammen andere für das
Mißgeschick einer ungewollten Empfängnis; sie verdammen die Armen - als könnten die Armen etwas dafür, daß sie arm sind. Eine Möglichkeit, wie die Armen sich selbst helfen könnten, wäre, die Kontrolle über die Größe ihrer Familie zu erlangen. Ich dächte, diese Entscheidungsfreiheit wäre
offensichtlich demokratisch - wäre offensichtlich amerikanisch!..." (Anm.: Wilbur Larch in seinem Brief an das Präsidentenpaar Roosevlet)
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„Und das nennt sich eine demokratische Gesellschaft, wo Menschen zum Mißgeschick einer ungewollten Empfängnis verdammt sind?!“, brüllte Wilbur Larch. „Was sind wir: Affen? Wenn ihr erwartet, daß Menschen verantwortlich sind für ihre Kinder, dann müßt ihr ihnen das Recht geben zu entscheiden, ob sie Kinder haben wollen oder nicht. Was denkt ihr Leute euch eigentlich? Ihr seid nicht nur verrückt! Ihr seid menschenfressende Ungeheuer!“, kreischte Wilbur Larch so laut, daß Schwester Edna in die Apotheke lief und ihn schüttelte.
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„Ich weiß nicht, was man Ihnen in dieser Kirche über die Abtreibung erzählt, aber da gibt es etwas, das Sie wissen sollten. Fünfunddreißig bis fünfundvierzig Prozent des Bevölkerungswachstums unseres Landes lassen sich zurückführen auf ungeplante, unerwünschte Geburten. Ehepaare, die wohlhabend sind, wünschen sich in der Regel ihre Babys. Nur siebzehn Prozent der wohlhabenden Eltern geborenen Babys sind unerwünscht. DOCH WAS IST MIT DEN ARMEN? Zweiundvierzig Prozent der Babys, die in Armut lebenden Eltern geboren werden, sind unerwünscht. Mister Präsident, das ist beinah die Hälfte. Und dies sind nicht die Zeiten eines Ben Franklin, der (wie Sie wahrscheinlich wissen), so erpicht darauf war, die Bevölkerung zu vermehren. Das Ziel Ihrer Regierung ist es, genügend Beschäftigung zu finden für die gegenwärtige Bevölkerung, und besser für die gegenwärtige Bevölkerung zu sorgen. Jene, die sich für das Leben der Ungeborenen einsetzen, sollten einmal über das Leben der Lebenden nachdenken. Mister Roosevelt - ausgerechnet Sie! - Sie sollten wissen, daß die Ungeborenen nicht so bedauernswert und Ihrer Hilfe so bedürftig sind wie die Geborenen! Bitte, erbarmen Sie sich der Geborenen!“


Bildquelle: www.amazon.de (2008)