1945: Alles bricht zusammen
Am 14. Februar 1945 fallen amerikanische Bomben auf Prag, drei Wellen mit mehr als 150 Tonnen töten 700 Menschen und verletzen weitere 1200. Auch die Universität bekommt einen Treffer ab. Am Palmsonntag, 25. März 1945, wird Prag erneut Ziel eines Luftangriffs – diesmal werden Industrievororte getroffen, 370 Menschen kommen dabei ums Leben. Auch andere tschechische Städte werden in den letzten beiden Kriegsmonaten bombardiert.
»Am 5. Mai 1945 bricht in Prag der Aufstand los. Die alliierten Armeen rücken näher, und die tschechischen Nazigegner möchten zeigen, dass sich vor dem Ein marsch der Sieger die Stadt aus eigener Kraft befreit hat.« Am Vormittag wer den an der Universität noch Promotionen abgehalten, anschließend findet eine Besprechung beim Rektor über die Evakuierung der deutschen Patientinnen und Patienten nach Marienbad statt. Währenddessen dringen revolutionäre Massen in die Universität ein und besetzen sie. »[J]e weiter die Zeit vorrückt, desto aufgeheizter wird die Stimmung … Die Straßen füllen sich mit aufgebrachten Leuten. [Sie] stürzen sich auf alles, was deutsch spricht, es wird geprügelt, gejagt, gedemütigt.«
Zu dieser Zeit sind rund 200 000 Reichsdeutsche in Prag, darunter viele Flüchtlinge aus dem Osten. Im gesamten Protektorat befinden sich noch 80 000 deutsche Soldaten, mehrere SSDivisionen sowie zentrale GestapoDienststellen. Nach dreitägigem Kampf zieht die deutsche Wehrmacht ab; ihr schließen sich viele deutsche Zivilisten an. Auch der Großteil des akademischen Personals der Deutschen Universität verlässt Prag, soweit sie dem Besatzungsregime nahestanden. Knaus bleibt. Am Tag danach rückt die Rote Armee in die befreite Stadt ein. Hermann Knaus übergibt dem Hausmeister seines Wohnhauses freiwillig seine Pistole mit Munition.
Über die ersten Tage nach dem Zusammenbruch gibt es unterschiedliche Berichte. Der ehemalige Professor der Prager Universität, Max Watzka, beschreibt sie so: Am 8. Mai 1945 wird Knaus wie so viele andere Deutschsprechende von den tschechoslowakischen Behörden verhaftet und kommt ins Gefängnis Pankratz, gemeinsam mit anderen Professoren der medizinischen Fakultät. Während der deutschen Okkupation diente Pankratz der Gestapo als Untersuchungsgefängnis und war ab 1943 die Zentrale Hinrichtungsstätte für das Protektorat Böhmen und Mähren. Nach einer anderen Quelle habe Knaus am 9. Mai vor Professor Karel Klaus, dem Revolutionsdirektor des Allgemeinen Krankenhauses, sowie Vertretern des Kollegiums der tschechischen Fakultät seine Abdankung unterschrieben und sei ins Gefängnis Ruzyně gebracht worden.
Jedenfalls kommt Knaus nach wenigen Tagen frei, »da er sich als Österreicher ausgab« und Gutes über ihn gesagt wird: »Seine Haltung gegenüber der tschechischen Bevölkerung und den ehemaligen Kollegen tschechischer Nationalität war nicht feindlich, soweit man es feststellen konnte. Ebenfalls wurde nicht fest gestellt, dass er in der Zeit der Okkupation jemandem drohte oder jemanden an zeigte. Im Allgemeinen Krankenhaus, wo Genannter tätig war, findet man kein Belastungsmaterial und nach der Erklärung des Betriebsrates gibt es […] keine Beschwerden.«
Nach Knaus’ eigener Schilderung bleiben er und seine Familie vorläufig in ihrer Wohnung in Prag. Der Professor darf nicht zurück in seine Klinik, wird aber woanders dringend gebraucht: Ferdinand Marek, erster diplomatischer Vertreter Österreichs, kehrt am 12. Mai 1945 in die österreichische Gesandtschaft in der Jungmannova 9 zurück und bietet österreichischen Flüchtlingen Quartier und Schutz.
»Wir richteten ein Ärztezimmer ein, wo […] der berühmte Frauenarzt Professor Knaus und andere Ärzte […] mit gewöhnlichem Zwirn, ohne jede Betäubungsmöglichkeit, ohne Instrumentarium, die Verwundeten versorgten und nähten.«
In den Tagen und Wochen nach dem Zusammenbruch der NSDiktatur spielen sich schreckliche Vergewaltigungsszenen ab: »Viele Frauen und junge Mädchen waren zerfetzt, da die Soldateska sich aus den Lagern Frauen herausgesucht hatten, von denen sie sicher waren, nicht angesteckt zu werden, also besonders halbe Kinder […].«
Am 27. Mai 1945 wird Knaus nach eigener Schilderung auf die »böswillige, unwahre Anzeige« seines ehemaligen Gärtners Eduard Hampl hin verhaftet und nach Pankratz geschafft. Dort erkrankt er an Diphtherie, die er »wie ein Wunder ohne jede Behandlung übersteht und am 13. Juli in einem so elenden Zustand entlassen [wird], dass ich heute noch an postdiphtherischen Lähmungen der gesamten Skelettmuskulatur leide, nur schwer gehen kann und noch für längere Zeit arbeitsunfähig sein werde«.
Beruflich möchte er in Prag bleiben und seine Kliniken behalten, für die er so viel getan hat: »Wenn ich meine Verdienste für das cechische Volk und für den cechoslowakischen Staat in Kürze zusammenfasse, darf ich […] darauf hinweisen, dass ich während des Krieges, also unter sehr schwierigen Verhältnissen, einen Plan verwirklichte, […] nämlich die Vergrößerung der Frauenklinik um zwei Stockwerke. So habe ich diese Klinik ganz wesentlich erweitert, modernisiert und mit den besten Einrichtungen ausgestattet und damit Voraussetzungen und Bedingungen für die Pflege und Heilung der Patienten geschaffen, mit denen die früher bestandenen nicht verglichen werden können. So habe ich nicht nur an der Frauenklinik die beiden Operationssäle mit den neuesten Sterilisierungsanlagen ausgestattet, eine ganz neue diagnostische und therapeutische Röntgenstation eingebaut, das Laboratorium mit Unterstützung der RockefellerFoundation mit sehr teuren wissenschaftlichen Forschungsgeräten eingerichtet, sondern auch die geburtshilfliche Klinik modernisiert und auch dort eine neue Sterilisationsanlage aufgestellt.« Mit der besonderen Betonung der ›Sterilisationsanlagen‹ spricht er ein wichtiges Thema der Krankenhaushygiene an. Die Gefahr der Verschleppung von Krankheitskeimen von einer Patientin zur nächsten ist gerade in der Geburtshilfe besonders groß und entsprechend gefürchtet.
Um seine Kliniken zu behalten, würde Knaus gerne ein ›tschechoslowakischer Professor‹ werden. Doch die neue Regierung lehnt ab.
Auch Knaus’ Frau plädiert für einen Umzug nach Österreich. So setzt sich der Professor also an den Schreibtisch und verfasst nach so vielen Jahren seinen Lebenslauf, um ihn den Anträgen beizufügen: »Meine wissenschaftlichen Veröffentlichungen umfassen 95 Einzelarbeiten in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache […]. Meine Assistenten und Schüler an der Frauenklinik in Prag haben unter meiner Anregung und Leitung eine sehr große Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten herausgebracht, so dass meine Klinik den Ruf grösster wissenschaftlicher Regsamkeit genoss.«