Hermann Knaus und Hermann Stieve im Clinch

Seiten 122-124

Eine Hauptzielscheibe wird der Berliner Anatom Hermann Stieve. »Da vor allem Stieve mit besonderem Eifer das gelegentliche Vorkommen einer spontanen und provozierten Ovulation sogar beim Kaninchen, Frettchen und bei der Katze bejaht und behauptet, ›daß wir überhaupt keine Tierart kennen, bei der die Ovula­tion nur nach der Paarung eintritt und eine spontane Ovulation ganz ausgeschlos­sen ist‹, kann ich nicht umhin, seine Beweisführung einer genaueren Nachprüfung zu unterziehen.«

›Eine genauere Nachprüfung‹ durch Knaus verheißt nichts Gutes, denn er hat in seinem naturwissenschaftlichen Perfektionismus so umfangreiche Studien am Tier betrieben, dass er auch auf diesem Gebiet jeden schlagen kann, der weniger Kenntnisse besitzt als er oder lediglich Daten von anderen Autoren übernommen hat.

Als Erstes nimmt er sich Stieves Behauptungen über das Kaninchen vor. Hier hat Stieve offenbar ordentlich gepatzt, denn gerade die physiologische Reaktion des Kaninchens wird seit 1929 unter dem Namen ›Friedman’sche Reaktion‹ als sehr sicherer Schwangerschaftstest benützt: Dazu werden die Eierstöcke von nar­kotisierten weiblichen Kaninchen freigelegt, die zwar geschlechtsreif, aber sicher nicht trächtig sind, da sie isoliert gehalten wurden. Noch während der Narkose injiziert man in die Ohrvene des Tieres etwas Harn der potenziell schwangeren Frau. Nach 48 Stunden wird die Bauchhöhle erneut geöffnet und die Eierstöcke werden begutachtet: Follikelblutungen oder Gelbkörper, die bei Berührung bluten, weisen auf eine Schwangerschaft hin. Noch unter der Narkose wird das Kanin­chen getötet (und in den heimischen Kochtopf verfrachtet). In den 1930er­ und 1940er­Jahren war dieser Test der beste verfügbare. Er ist sehr aussagefähig, im Vergleich zu späteren Methoden aber zeitaufwendig und ›verbraucht‹ jedes Mal ein Kaninchen.

Knaus beschreibt, warum Stieves Behauptung über das Kaninchen nicht stim­men kann: »Nirgends findet man Klagen darüber, daß die Friedman’sche Reaktion durch den Nachteil belastet wäre, daß das isoliert gehaltene Kaninchen manchmal auch spontan ovuliere, wodurch die Beweiskraft der Reaktion naturgemäß abge­schwächt würde. Vielmehr wird von allen Autoren übereinstimmend anerkannt, daß die positive Friedman’sche Reaktion […] stets das Vorliegen einer Schwanger­schaft beweise. Wie ließe sich diese einhellige Beurteilung verstehen, wenn beim Kaninchen tatsächlich spontane Ovulationen bestünden, die das Versuchsergebnis doch sehr trüben müßten!«

Knaus verweist auch auf seine eigenen Erfahrungen: »Seit dem Jahre 1925, in dem ich ein Schüler von Marshall und Hammond geworden bin, [habe ich] viele Hunderte von Kaninchen selbst gezüchtet und an diesen eine große Zahl von expe­rimentellen Untersuchungen ausgeführt […], um damit die verschiedensten Fra­ gen aus der Fortpflanzungsphysiologie zu bearbeiten. In diesen 18 Jahren anhalten­ der experimenteller Tätigkeit konnte ich auch nicht ein einziges Male eine spontan auftretende Ovulation bei diesem Tiere beobachten.«

Auch Stieves Behauptungen über das Frettchen und die Katze unterzieht Knaus einer ›genaueren Nachprüfung‹: Sein Ergebnis ist ähnlich vernichtend wie beim Kaninchen, denn er kennt jede, wirklich jede wissenschaftliche Arbeit seines Fach­gebietes, ungeachtet dessen, ob es sich um ältere oder ganz neue Publikationen handelt. Diese referiert er seitenlang. »Aus dieser eingehenden Darstellung des Weltschrifttums über die Frage des normalen Ovulationsvorganges beim Kanin­chen, beim Frettchen und bei der Katze geht hervor, daß diese 3 Tiere als die bisher bekannten Vertreter des einen Ovulationstypus, nämlich der sogenannten provo­ zierten Ovulation, anzusehen sind, während der andere – spontane – Ovulations­typus den übrigen Säugetieren und dem Menschen eigen ist.«

Stieve präsentierte aber auch eigene Beobachtungen an Frauen als Beweis. Doch auch sie lässt Knaus nicht gelten, und zwar aus einem sehr plausiblen Grund: Stieve ist Anatom; sein Untersuchungsmaterial ist dementsprechend tot. Knaus erklärt das Problem: »Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft [ist] der Anatom gar nicht mehr in der Lage […], an diesen Forschungen teilzunehmen, weil man dazu des lebenden Beobachtungsgutes und nicht nur einer herausgeschnittenen Gebär­mutter […] bedarf. Allein die Feststellung der individuellen Eigenart des Zyklus erfordert wenigstens 1 Jahr sorgfältiger Beobachtung, wozu der Anatom keine Gelegenheit hat. Diese Lebensvorgänge können nur […] am lebenden Körper der Frau verfolgt und ermittelt werden.«

Damit legt Knaus seinen Finger auf einen wunden Punkt Stieves – ob beab­sichtigt oder nicht: Stieves Untersuchungsgut ist nicht nur tot, sondern im Allge­meinen auch weder jung noch gesund. Das ändert sich erst mit der Machtergrei­fung der Nazis im Jahr 1933 und den damit einhergehenden Todesstrafen –, bei­spielsweise wegen politischen Widerstandes. Um mithilfe dieser Leichen die Lehre von Hermann Knaus und Kyūsaku Ogino überprüfen zu können, lässt Stieve die Hinrichtungstermine junger Frauen nach seinen Fragestellungen festlegen, bei­spielsweise knapp vor die Menstruation. Zu diesem Zeitpunkt gibt es nach Knaus keine reife Eizelle. Da Stieve aber bei seinen Obduktionen der Leichen sehr wohl auch frisch geplatzte Eizellen findet, schließt er daraus, dass die Lehre von Knaus und Ogino falsch sein muss. Die tatsächlich nachweisbaren Eisprünge sind jedoch durch die Todesangst von Verhaftung, Gefängnis, Gerichtsverfahren und Todes­ urteil zustande gekommen – haben also mit dem natürlichen physiologischen Ver­ lauf nichts gemeinsam.