Hilfe vom Schweizer Freund

Im Herbst 1945 geht es Knaus körperlich nicht gut. Durch Komplikationen seiner Diphtherieerkrankung vom Juni »fühlte ich mich […] so elend, dass ich glaubte kaum jemals wieder gesund zu werden, vor allem aber nicht in dieser Um­gebung«. Könnte er zur Behandlung seiner Nervenentzündung und Lähmungen in die Schweiz kommen?724 Während Gerster alle Hebel in Bewegung setzt, um dem Freund ein Einreisevisum zu beschaffen, bessert sich Knaus’ Zustand aber doch etwas und er will seine »Frau nicht alleine in Prag lassen und sie mit allen Sor­gen der Uebersiedlung […] belasten. Wenn ich auch selbst noch nicht mit eigenen Händen zugreifen kann, so bin ich doch für meine Frau insofern eine Stütze als ich sie in allen ihren Entscheidungen beraten und sie auch seelisch stützen kann. Es ist jetzt unsere Hauptaufgabe unser Hab und Gut zu retten […].«

Der Kampf um seinen Hausrat, seine Möbel, seine sonstigen Besitztümer sowie seine Bibliothek scheint aussichtslos, weil sich so viele Stellen einmischen und gegebene Zusicherungen nicht halten. So wendet sich Knaus schließlich direkt an den Staatspräsidenten Edvard Beneš. Knaus fasst zusammen, was er als Arzt und Wissenschafter für das tschechoslowakische Volk und den Staat geleistet habe, er­ wähnt seine seinerzeitige Berufung durch ebendiesen Beneš und schildert seine aktuelle Notlage: Ohne seine – einst aus Österreich mitgebrachten – Möbel und Einrichtungsgegenstände könne er seinen Beruf nicht ausüben und deren Nach­beschaffung sei ihm nicht möglich.

Nach dem sogenannten Beneš­Dekret 108 vom 25. Oktober 1945 wird das ge­samte bewegliche und unbewegliche Vermögen der deutschen EinwohnerInnen konfisziert und unter staatliche Verwaltung gestellt. Österreicher sollen aber laut Rechtsmeinung des tschechoslowakischen Innenministeriums nicht als Deutsche behandelt werden: Soweit sie sich nicht gegen die Tschechoslowakei vergangen haben, dürfen sie sämtlichen Besitz mit Ausnahme von Gold und Wertsachen mitnehmen, wenn sie das Land verlassen wollen.726 So einfach scheint es dann doch nicht zu sein. Knaus kann zwar eine Zuständigkeitsbescheinigung der Stadt­ gemeinde St. Veit/Glan vorlegen727 und bekommt die Genehmigung zur Ausfuhr seines gesamten Vermögens (mit Ausnahme des Schmuckes),728 doch Papier ist geduldig und Zusicherungen gelten nur dann etwas, wenn man sie durchsetzen kann. Erst Anfang Februar 1946 gelingt es Ružica Knaus, nach einer 14­tägigen Reise die Möbel aus der Prager Stadtwohnung nach Graz zu bringen. »Leider haben wir bei dieser Übersiedlung einen sehr schmerzlichen Verlust zu beklagen, nämlich einen grossen Schiffskoffer, der fast unsere ganze Garderobe enthalten hat. […] Der Koffer wurde offenbar beim Verladen in Prag gestohlen.«

Was er allerdings trotz aller Interventionen nicht mitnehmen kann, ist seine Bibliothek, die er im Schlösschen Lojovice aufgebaut hat. Denn im Gegensatz zur Auslegung des Beneš­Dekrets 108 durch das Innenministerium »führt das Land­ wirtschaftsministerium an, dass der landwirtschaftliche Besitz grundsätzlich allen Personen deutscher Nationalität ohne Unterschied der Staatszugehörigkeit konfis­ziert wird«.730 Das ist für Knaus eine Katastrophe, denn »ohne meine Bibliothek wäre meine künftige Forschertätigkeit lahmgelegt und damit mein wissenschaftliches Leben für immer vernichtet«.731An Freund Gerster schreibt er: »Der Ver­ lust dieser […] unentbehrlichen Sammlungen von eigenen Beobachtungen und festgehaltenen Untersuchungsergebnissen sowie Büchern und Sonderabdrucken aus der Weltliteratur wäre für mich kaum zu ertragen. Er würde das Ende meiner wissenschaftlichen Lauf bahn bedeuten. Denn ich kann mit meinen 53 Jahren nicht noch einmal 20 Jahre zu sammeln anfangen, um hernach vielleicht die Bücher zu schreiben, die ich nur jetzt und nicht erst nach so langer Zeit zu verfassen im Stande bin.«

Gerster hat schon bisher seine unkonventionelle Persönlichkeit bewiesen. So auch jetzt: Anfang Januar 1946 schreibt er einen beschwörenden Brief an die Schweizerische Gesandtschaft in Prag und einen drohenden an das tschechoslowa­kische Innenministerium: »Ich hoffe sehr, dass Sie der Stimme des Rechtes und der Menschlichkeit folgen und damit das Ansehen Ihres Staates in der Welt fördern. Nur ungern müsste ich sonst diese bedenkliche Angelegenheit durch die Presse vor das Forum der Weltöffentlichkeit bringen […].«733 Auf die Antwort des Ministe­riums, es würde kein Antrag auf Herausgabe von Knaus’ Eigentum vorliegen, ant­ wortet Gerster noch deutlicher.734 Das amtliche Katz­und­Maus­Spiel hat jedoch System, denn die Tschechoslowakei will mit Österreich zuerst über Grenzberich­tigungen verhandeln, bevor vermögensrechtliche Fragen geklärt werden.

Unerreichbar sind für Hermann Knaus auch seine Unterlagen und Besitztümer aus seinem Arbeitszimmer in der Frauenklinik. Die Bücher, Broschüren, Sonder­ drucke und privaten Unterlagen, die sich bei seiner Verhaftung in seinem Prager Klinikschrank befanden, gelten als ›dienstliche Dokumente‹ oder als Beweise für seine nazistische Tätigkeit.736 Noch mehr als drei Jahre später wird er sich an sei­nen Nachfolger als Klinikchef, Karel Klaus, mit der Bitte wenden, ihm doch nun endlich wie versprochen seine Sachen zurückzugeben.

Der Professor in Warteposition
In Knaus’ Korrespondenz mit Gerster spricht ein völlig anderer als der, den seine akademischen Gegner fürchten gelernt haben: Knaus bedankt sich mit gro­ßer Herzlichkeit »für die grosse Güte, mit der Sie uns umsorgen«. Ein andermal sendet er »heissen Dank [für Ihre] Güte und Grossmütigkeit«. Er ist froh und erleichtert, dass die Tochter bei den Freunden in der Schweiz gut aufgehoben ist, macht sich aber »ernste Sorgen, nämlich dass ich mit jedem weiteren Tage, den Inge in Ihrer Familie verbringt, tiefer in Schuld gerate und dass ich eines Tages in der grossen Verlegenheit sein werde, wie ich Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin mei­nen unermesslichen Dank abstatten soll«.

Knaus ist von seiner überstandenen Diphtherie noch extrem abgemagert.
Das Ehepaar Knaus wohnt in einer provisorischen Bleibe in Graz, hält sich zwi­schendurch bei seiner Familie in St. Veit auf. Beruflich tut sich gar nichts: »Sie wer­ den staunen, wenn ich Ihnen berichte, dass ich noch immer nicht zum Vorstand der Frauenklinik ernannt bin, obgleich man mir im Herbst das Versprechen abge­nommen hat, sicher nach Graz zu kommen und hier die Klinik zu übernehmen.

Örtliche Grössen, deren Namen Sie gar nicht kennen werden, sind hier am Werke und wollen sich skrupellos selbst in den Sattel schwingen.«

Ende März 1946 schöpft Knaus neue Hoffnung auf ein Leben in Graz. Er und seine Frau sind in die Grabenstraße umgezogen, die Wohnung »besteht aus 3 gros­ sen Zimmern und einer Küche, wir werden hier wohnen und auch ordinieren, was sich ganz gut einrichten lässt. Es ist allerdings ein tiefer Sturz von 8 auf 3 Zimmer, aber durchaus zeitgemäss. Im Herbst hoffen wir dann wieder wirklich residieren zu können, denn eine schöne Wohnung ist das halbe Leben.«743 Auch die katast­rophale Versorgungslage könnte sich bessern, denn Gerster fragt an, ob er ihm so­ genannte ›Liebesgabenpakete‹ mit Lebensmitteln aus der Schweiz schicken dürfte.

»Es soll Ihnen in keiner weise peinlich sein, Sie können es ja als Anleihe betrach­ten […]. Die ganze Welt ist verrückt, man muss sich also helfen, wie man kann.«

Wie angespannt die Versorgungssituation in Österreich ist, beschreibt Knaus im Mai 1946 in einem Brief an seine Tochter: »Bis Du hier sein wirst, wird hoffentlich alles besser sein, denn dann wird es schon Obst geben und mehr Milch. Seit einer Woche regnet es bei uns sehr viel, womit die lange Dürre Gott sei Dank ein Ende gefunden hat; so wird es nach der Ernte wieder mehr zu essen geben und Du wirst keinen Hunger leiden müssen.«

Im September 1946 hat Knaus noch immer keine Zusage bekommen – weder die versprochene Berufung an die Grazer Universitätsklinik noch die versprochene große Wohnung noch irgendeine andere Möglichkeit haben sich realisiert. Als Gynäkologe praktizieren darf er nicht, »aufgrund eines Überangebotes an Gynäko­ logen in Österreich«, ein Wiener Angebot bekommt er auch nicht, »da die Anzahl der in Wien tätigen Gynäkologen – auch der Dozenten und Professoren – den Be­ darf weit übersteigt«. Im Übrigen wäre er ja wohl Mitglied der NSDAP gewe­sen, »weil es sonst nicht zu seiner wiederholten Verantwortung vor dem obersten Gericht der NSDAP in München hätte kommen können«. Unterzeichnet ist die Absage von Fritz Reuter, ehemals Professor der Gerichtsmedizin, der 1938 von den Nazis aus seinem Amt gejagt und ohne Bezüge in den Ruhestand versetzt wurde.

Es zerschlägt sich auch der Plan, die gynäkologische Abteilung am Landeskran­kenhaus Leoben »bis zur Klärung seiner eigenen Angelegenheiten und bis zur defi­nitiven Bestellung des Primarius stellvertretend zu leiten«, obwohl sich sein Grazer Studienfreund, der Kinderarzt Karl Jellenigg, für ihn starkmacht: »Eine auch nur kurzdauernde Betätigung eines Operateurs von Weltruf, wie ihn Prof. Knaus ge­ niesst, würde von größtem Vorteil für die Organisation unseres Betriebes sein.«

An das Warten »habe ich mich im Verlaufe des letzten Jahres gewöhnt und mich innerlich so weit beruhigt, dass ich auch noch weiter warten kann, ohne zu ver­ zweifeln. Vor einem Jahr hätte ich solche Schläge noch nicht ausgehalten, jetzt bin ich aber so weit abgehärtet und auch auf das Schlimmste gefasst. Aber ich glaube, dass ich auch dann nicht untergehen und die Kraft finden würde, die Bücher zu schreiben, auf die es in meinem künftigen Leben in erster Linie ankommt.«

Diesbezüglich tut sich im September 1946 endlich Positives: »Heute habe ich aus Prag die erfreuliche Nachricht erhalten, dass ich als erstes meine Bibliothek abho­len kann. Damit erscheint mir meine wissenschaftliche und literarische Zukunft gesichert und mein Geist die Beschäftigung zu bekommen, ohne die er verzweifelt wäre. Wenn ich die Bücher nur schon hier hätte […].« Tatsächlich verhandelt Knaus noch im April 1947 über die Rückgabe. Die österreichische Gesandtschaft in Prag übernimmt den Schutz dieser Bestände. Dank der »großzügigen Hilfe von Mr. W. R. Hartley, die er mir […] in wahrhaft paneuropäischem Geiste angedeihen ließ«, bekommt er seine Bibliothek schließlich doch noch zurück, sodass er wieder publizieren kann.