‚Der Abend’, 5. Juli 1929
Der Fluchparagraph 144.
Aus einem Dorf im Waldviertel kam die 18jährige Hausgehilfin Rosa K. mit ihrem Geliebten, dem Pferdewärter Josef St., nach Wien zu einer Hebamme und baten sie, einen Eingriff an dem Mädchen vorzunehmen, um eine Fehlgeburt herbeizuführen. Gegen eine Bezahlung von 100 S, wovon der Pferdewärter 75 S zahlte, nahm die Hebamme die Abtreibung vor. Nachher wurde die Sache ruchbar und das Liebespaar wegen Verbrechens nach § 144 ST. G. angeklagt. Gegen die Hebamme konnte nicht vorgegangen werden, weil die beiden weder ihren Namen noch ihre Wohnung anzugeben wußten.
Vor dem Schöffensenat des Oberlandesgerichtsrates Hellmer erklärte die Hausgehilfin, sie habe ihren Posten verloren und obendrein ihr Kind nicht erhalten können, sie habe schon für ein uneheliches Kind zu sorgen. Ihr Geliebter verdiene nur 40 Schilling wöchentlich, davon hätte er ihr nichts geben können.
„Was hätte ich also mit dem Kinde angefangen?“
Vors.: „Ein Kind haben Sie ja schon. Mit dem anderen hätten Sie ein bißl warten können. Aber wenn es schon einmal da ist, was wäre schon dabei gewesen, wenn noch ein uneheliches Kind in dem Dorf herumgelaufen wäre?
(Glauben Sie, Herr Vorsitzender? Die Schriftleitung.)
Der Gerichtshof hat beide Angeklagte natürlich schuldig befunden, das Mädchen zu drei Wochen, den Mann zu zwei Monaten strengen Arrests bedingt verurteilt.
Quelle: Zeitung ‚Der Abend’, 1929, Wien (Österreichische Nationalbibliothek)
Der Abend war eine österreichische Tageszeitung.
Der Abend wurde 1915, während des Ersten Weltkrieges in Wien als Pendant zu „Der Morgen“ gegründet. Der Ton wurde nach 1918 zunehmend polemisch und aggressiv und spiegelte das Gedankengut der Sozialdemokratie und des Kommunismus wider. Zahlreiche Artikel betrieben Enthüllungsjournalismus und sind aus dieser Sicht bis heute (wirtschafts)historisch interessant, ein Beispiel ist etwa der Beitrag über die Krise der Centralbank der deutschen Sparkassen vom 30. Juni 1926 und in der Folge die Artikelserie über den Postsparkassenskandal im Herbst 1926. Auch die im Oktober 1929 aufgebrochene Krise der Bodencreditanstalt wurde im „Abend“ früh thematisiert.
Der Abend wurde am 16. Februar 1934, unmittelbar nach Ende des Februaraufstandes eingestellt. Als Nachfolger gilt die KP-Zeitung Telegraph (1948–1957)
Quelle: www.wikipedia.org, Juli 2013